Zeitriss: Thriller (German Edition)
Belohnung seines Erfolges genossen. Er hatte sich seinem Vorsatz gemäß ein Segelboot gekauft, weil er damit um die Welt segeln wollte. Doch der Traum hielt nur ein paar Wochen lang, dann reichte es ihm mit der Einsamkeit. Er befasste sich mit Drogen und zahlreichen Frauen und füllte die Leere damit drei Monate lang aus. Inzwischen war er zu aufregenderen Ablenkungen übergegangen, wie zum Beispiel Gleitschirmspringen und Klettern und Flüge mit seiner restaurierten Tiger Moth, die auf seiner privaten Landepiste am Rand der Wüste von Nevada stand. Doch zuletzt war gar nichts mehr nach Plan verlaufen; bei jeder Aktion war er in Schwierigkeiten geraten. Author hatte wohl recht, wenn er ihm ein sehr kurzes Leben voraussagte. Ohne die Omega-Programmierung hätte sein Bedürfnis, derartig an seine Grenzen zu gehen, längst tödliche Folgen gehabt.
Wilson fühlte sich jeden Tag ohnmächtiger und verbitterte zusehends. Nur eine Sache hielt ihn noch aufrecht: Randall Chens Reise in die Vergangenheit, das Unternehmen Esra. Es war der einzige leuchtende Stern an einem pechschwarzen Nachthimmel. Es hielt ihm vor Augen, dass die Zeit wahrhaftig dehnbar war … und nährte die Hoffnung, eines Tages vielleicht zurückzubekommen, was er verloren hatte. Ihm war klar, dass Barton nicht mehr wiederkehren konnte. Und ihm war klar, dass er Helena nie wiedersehen würde, so sehr er sich das auch wünschte. Trotzdem und gegen alle Vernunft hoffte er weiter. Barton hatte immer wieder geäußert, das Schicksal bestimme den Lauf der Dinge, denn davon war er völlig überzeugt gewesen. Wenn ein Mensch starb, sollte er sterben. Die Aufseher waren bloße Werkzeuge in der großen Werkstatt des Schicksals – sie lebten nur, um ihre Aufgabe zu erfüllen. Das Ergebnis hatten sie nicht in der Hand; sie sorgten nur für sein Stattfinden. Nach Bartons Ansicht konnte ein Mensch seine Bestimmung nicht selbst finden, sondern musste sich von seiner Bestimmung finden lassen; und vor allem musste er bereit sein, sie anzunehmen.
Wilsons Blick fiel auf sein Spiegelbild in der Fensterscheibe vor dem Waldpanorama, und der Anblick war ein Schock. In dieser neuen schwarzen Team-Uniform wirkte er so förmlich und korrekt – so war er nicht. So vieles hat sich geändert, dachte er. Da stand er in einem Anzug, der den intelligentesten und diszipliniertesten Menschen der Welt vorbehalten war – einfach lächerlich. Wie war es so weit gekommen? Wie hatte alles so aus dem Ruder laufen können? Als Barton das Team noch leitete, trugen sie alle weiße Kleidung, die viel legerer saß, und auch ein anderes Emblem am Revers. Anscheinend hatte sich hier restlos alles geändert – auch Wilson –, und es würde nie wieder so werden wie vorher.
Die Tür ging auf, und der junge Andre Steinbeck kam herein, in dem gleichen schwarzen Anzug. Der einzige Unterschied bestand in den Schildchen am Revers, die ihn als Taktiker und stellvertretenden Leiter auswiesen. »Welche Überraschung, Mr. Dowling. Sie sind schon wieder pünktlich«, bemerkte er.
Wilson täuschte ein Lächeln vor. »Ja, erstaunlich, nicht wahr?«
Andre war der jüngste Taktiker, den das Mercury-Team je gehabt hatte. Er hatte den Rang als Teenager von knapp fünfzehn Jahren erhalten und war beim Unternehmen Jesaja ein wichtiger Mitarbeiter gewesen. Er hatte einen IQ von 185, und sein technisches Genie und seine Erfahrung mit Transportsystemen waren unschätzbar. Wenn er eine Schwäche hatte, dann war es seine mangelnde Reife gepaart mit einem enormen Selbstvertrauen, die ihn zur Arroganz gegenüber den weniger Intelligenten verleitete. Inzwischen war er fast zwanzig, hatte Akne auf den zarten Wangen und kämmte sich die dunklen Haare mit Gel zu aufrechten Stacheln. Sein schmales, blasses Gesicht war im Verlauf des letzten Jahres fülliger geworden und grenzte allmählich an die Bantamgewichtsklasse. Wilson konnte ihn nicht sonderlich gut leiden, aber das war dem jungen Taktiker egal – ihm war nichts wichtig außer seiner Karriere.
»Nur aus Neugier: Wieso sind Sie neuerdings so pünktlich?«, fragte Andre.
»Das ist der letzte verbliebene Sinn in meinem Leben«, antwortete Wilson trocken.
Andre blickte ihn verständnislos an; er schien nicht zu wissen, was er von der Antwort halten sollte, machte sich aber nicht die Mühe zu fragen. »Ich verstehe«, sagte er und schritt energisch zum Konferenztisch.
Wilson war zu Besprechungen häufig zu spät gekommen, hatte es während des vergangenen Monats aber
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