Zeitsplitter - Die Jägerin: Roman (German Edition)
Sicht klärt sich. Ich bin in meinem Schlafzimmer und tigere hin und her. Finn sitzt mit gekreuzten Beinen auf meinem Bett.
»Mir wird schlecht von deinem Gerenne«, sagt er.
»Tut mir ja so leid. Wie kann ich es nur wagen, dir mit meinen Sorgen auf den Magen zu schlagen«, fauche ich. »Mach halt die Augen zu.«
Er packt mein Handgelenk, als ich wieder an ihm vorbeikomme. »Hey, das wird schon wieder.«
»Wie denn?«
»Ich weiß es nicht. Das ist das, was man in so einer Situation sagen muss.«
Ich lache, und der brüchige Klang meines Lachens tut mir im Hals weh. Wenigstens kann ich mich darauf verlassen, dass Finn ehrlich ist.
»Setz dich«, sagt er. »Bitte.«
Ich lasse mich widerstrebend auf dem Bett nieder und beginne, an einem losen Faden der Tagesdecke zu zupfen. Als ich an ihm ziehe, kräuselt sich der Stoff um den Faden über die gesamte Länge der Decke, eine Unregelmäßigkeit in der ansonsten gleichförmigen Oberfläche des Stoffs. Der Anblick lässt mich an kosmische Trampolins und winzige Portale durchs Raum-Zeit-Kontinuum denken. Ich erschauere und glätte die Stelle, so gut ich kann.
»Ich habe Angst vor ihm«, sage ich leise. »Ich hätte nie gedacht, dass ich Angst vor ihm haben könnte.«
»Ich auch nicht. Gott, wir bilden uns das wirklich nicht ein, oder?«, fragt Finn. »Ich meine, wir wissen ja alle, dass ich egoistisch und unzuverlässig bin, aber wenn es dir auch so geht …«
Ich schlucke. Ich hasse ihn dafür, dass er es laut ausspricht. Ich war immer stolz auf meine Loyalität, auf meine hartnäckige Treue zu den Menschen, die ich gernhabe. Ich dachte, dass James und ich immer zusammenhalten würden, dass nichts mich dazu bringen könnte, ihn zu verraten.
»Das war’s dann also«, sagt Finn. »Wir müssen weg. Raus aus der Stadt, bevor es zu spät ist.«
Alles wird schwarz, dann flackern Bilder auf und verschwinden wieder, wie bei einer Filmrolle, die von der Spule gerutscht ist. Ich werde vorwärts durch die Zeit gerissen. Ich bin wieder in meinem Zimmer, aber es ist Tage später. Ich packe die winzige Tasche, die alles ist, was die Schleuser mir erlauben. Wir haben nicht die richtigen Papiere für eine Reise, und niemand kommt aus D . C. ohne die richtigen Papiere. Die bewaffneten Soldaten an den Kontrollpunkten sorgen dafür. Finns Eltern können nicht helfen, und meine weigern sich, aber es gibt ein Untergrundnetzwerk von Menschen, die uns für den richtigen Preis hinausbringen können.
Finn hat es leicht. Er lebt auf dem Campus der American University, er kann seinem Zimmergenossen einfach einen Zettel hinterlassen, mit dem er ihm seinen Fernseher und seinen Vorrat an Cherry Coke vermacht, und dann verschwinden.
Ich muss darauf warten, dass meine Mutter und ihr neuer Freund in Smoking und Abendkleid zu einer Charity-Gala gehen, bevor ich mein Zimmer durchwühlen und die wirklich notwendigen Dinge von denen trennen kann, die ich nur nicht zurücklassen will. Ich packe ein paar Kleidungsstücke zum Wechseln in meine Tasche, eine Zahnbürste, das Bündel Bargeld, das ich mir seit Wochen Schein für Schein aus Moms Brieftasche zusammenstibitzt habe, ihren teuersten Schmuck, um ihn für noch mehr Bargeld zu verpfänden, und die vier verblichenen Blatt Papier aus einem gelben Notizblock, die meine Lebensversicherung sind.
An der Tür drehe ich mich um und sehe zurück auf mein Bett, die Poster an den Wänden, das Durcheinander aus Schmuck und Make-up und Kaugummipapier auf meiner Kommode. Es sieht für mich schon jetzt wie eine andere Welt aus, in der ich nur im Traum gelebt habe. Auf meinem Nachttisch liegt ein umgekippter Bilderrahmen. Ich gehe hin, nehme ihn in die Hand und betrachte die drei Gesichter, die mich anstrahlen. Plötzlich will ich das Bild unbedingt mitnehmen.
Aber ich habe keinen Platz. Ich stelle es zurück auf den Nachttisch und schließe die Tür hinter mir.
Ich gehe auf Strümpfen durch den Flur und die Treppe hinunter, meine robustesten Turnschuhe trage ich in der Hand. Ich habe schon fast die Haustür erreicht, als Luz aus dem Schatten tritt, das Gesicht gefurcht vom Alter und von Traurigkeit.
Bei ihrem Anblick verwandle ich mich sofort wieder in ein Kind, und meine Unterlippe beginnt zu zittern. »Ich muss weg.«
» Mija …«
»Ich bin hier nicht mehr sicher«, sage ich. » Du bist hier nicht mehr sicher, wenn ich da bin.«
Luz schließt mich in ihre Arme und wiegt mich hin und her, und ich weine die heißen Tränen, die ich zurückgehalten
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