Zeitsplitter - Die Jägerin: Roman (German Edition)
über der Nummer schwebt, bin ich mir noch nicht sicher. Warum haben sie nicht angerufen? Sie müssen es doch inzwischen gehört haben. Wenn ich nicht anrufe, muss ich auch nicht vergebens darauf warten, dass sie rangehen. Wenn ich es mir nicht wünsche, kann ich auch nicht enttäuscht sein.
Ich drücke die Nummer, die ich unter »Dad Handy« abgespeichert habe, und das Telefon beginnt zu tuten. Ich schließe die Augen und versuche mir zurechtzulegen, was ich sagen werde, wenn er rangeht. Daddy, die Welt geht unter, bitte mach, dass es aufhört.
»Hallo. Dies ist der Anschluss von Daniel Marchetti. Ich bin im Moment nicht erreichbar …«
Ich ramme meinen Finger auf die Taste mit dem roten Telefon, um die Verbindung zu beenden. Ich versuche es bei Mom. Ihre Mailbox springt sofort an, und ich würde eine Million Dollar darauf wetten, dass sie gerade im Spa liegt. Dad geht zum Skifahren nach Vail, aber sie verbringt dort fast jeden Augenblick mit Massagen oder Gesichtsbehandlungen oder Peelings.
Das habe ich zumindest gehört, denn sie haben mich noch nie mitgenommen.
Ich stopfe das Handy zurück in die Tasche, und meine Finger krallen sich in den Stoff, während ich die Fäuste balle. Die empfindlichen Swarovski-Kristalle, die die Tasche zieren, zerren an ihren Fäden, und ich kratze darüber. Ein halbes Dutzend der glitzernden Steinchen reißt ab. Mom wird mich umbringen, aber es ist mir egal.
Ich gehe in die Damentoilette und spritze mir kaltes Wasser ins Gesicht. Ich versuche, mein Spiegelbild nicht zu genau zu betrachten. Frisur und Make-up sind hinüber, und plötzlich erkenne ich die Person, die mich aus dem Spiegel ansieht, nicht mehr. Als würde ich ein Foto einer entfernten Cousine betrachten. Vage vertraut, aber fremd. Nicht ich.
»Alles in Ordnung?«, fragt Finn ruhig, als ich mich wieder auf einem Stuhl im Warteraum niederlasse. Er blickt auf meine mitgenommene Handtasche.
»Ja«, sage ich. »Hast du deine Eltern angerufen?«
»Ich will meine Mom nicht aufwecken.« Er neigt den Kopf. »Was haben deine Eltern gesagt?«
Ich sehe weg. »Nichts.«
Mein Blick wandert zu James zurück, der in einer Ecke des Raums sitzt, genau wie vor meiner Telefonpause – nur, dass er den Kopf jetzt über einen gelben Notizblock gesenkt hält und wie wild schreibt. Der gespenstische Ausdruck ist aus seinem Gesicht gewichen, und sein abwesender Blick wirkt konzentriert, während er auf den Block starrt.
»Was macht er da?«, flüstere ich.
»Ich bin mir nicht sicher«, sagt Finn. »Er hat die Schwester um Papier und Stift gebeten, während du weg warst, und seitdem ist er so. Meinst du, es geht ihm gut?«
»Ich weiß es nicht.« In James’ Augen leuchtet solch ein Feuer, dass ich fast fürchte, es könnte das Papier in Brand setzen. Es ist ein wenig unheimlich, aber weniger unheimlich als der verlorene, leere Blick, den er in den letzten Stunden hatte. »Wenigstens tut er irgendwas .«
»Ja, aber ich frage mich, was.«
Ich sehe Finn an und versuche, seinen besorgten Ausdruck zu enträtseln, als ich höre, wie der Block hinter mir auf dem Boden landet. James ist aufgesprungen, und ich folge seinem Blick zu dem Arzt im OP -Kittel, der in der Tür steht.
Oh Gott, es ist so weit.
Vivianne stellt sich auf die eine Seite neben James und ich auf die andere, und ich forsche im Gesicht des Mannes, als er die Maske abnimmt. Ich suche nach einem Hinweis auf die Nachrichten, die er uns bringt, aber seine Züge sind vollkommen unergründlich, wie eine zweite Maske. Zunächst bin ich erleichtert. Wenn Nate gestorben wäre, würde er doch bestürzt wirken, oder? Aber wenn alles in Ordnung ist, scheint es mir fast grausam, dass er nicht lächelt.
Wir vier schauen den Arzt an, als gehöre er zu einem Erschießungskommando, und wir sind die Gefangenen.
»Geht es ihm gut?«, fragt James.
»Der Abgeordnete Shaw wurde sehr schwer verletzt«, sagt der Mann, und ich kann kaum dem Drang widerstehen, ihn zu schütteln. Wir wissen, dass er sehr schwer verletzt wurde. Wir waren dabei. »Wir arbeiten noch daran, den Schaden einzudämmen, den die Kugel angerichtet hat, aber das Schlimmste hat er überstanden.«
James sackt in sich zusammen, und ich lege ihm den Arm um die Taille, um ihn zu stützen. Gott sei Dank. Ich drücke mein Gesicht an seine Schulter.
»Sein Zustand ist allerdings immer noch kritisch. Die nächsten achtundvierzig bis zweiundsiebzig Stunden sind entscheidend.«
James richtet sich auf, seine Muskeln spannen
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