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Zeitspuren: Mit einem Vorwort von Wolfgang Jeschke - Meisterwerke der Science Fiction (German Edition)

Zeitspuren: Mit einem Vorwort von Wolfgang Jeschke - Meisterwerke der Science Fiction (German Edition)

Titel: Zeitspuren: Mit einem Vorwort von Wolfgang Jeschke - Meisterwerke der Science Fiction (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jack Finney
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kam ein Halbmond hervor, der bald verschwand, bald wieder auftauchte. Einige Male mussten wir uns zwischen zwei Straßenlaternen durch die Dunkelheit tasten, ein andermal aber, wenn der Mond herauskam und sein Licht vom Schnee reflektiert wurde, war es taghell.
    Wir gingen durch stille Wohnviertel, wie sie auch noch in großer Zahl im San Francisco des zwanzigsten Jahrhunderts existieren. Keine einzelnen Juwelen, sondern ganze Blocks mit Häusern aus dem neunzehnten Jahrhundert, die bis heute unverändert geblieben sind und bis auf die geparkten Autos davor genauso aussehen wie damals, wie lebendig gewordene Fotografien ihrer selbst. Und hier nun, im Lower Manhattan des neunzehnten Jahrhunderts – oft haben wir den falschen Eindruck, als hätten hier nur braune Sandsteinbauten gestanden –, gab es ganze Straßen mit hohen, wundervoll verzierten Holzhäusern, genau wie im heutigen San Francisco. Gelegentlich sahen wir gedämpftes Licht hinter dem Vorhang eines Fensters; ein Kranker, nahmen wir an. Hin und wieder waren Wagenspuren zu sehen, gelegentlich auch kniehohe Schneeverwehungen. Ich nahm Julias Hand und half ihr hindurch. Und nach einer dieser Verwehungen ließen sich unsere Hände nicht mehr los. Wir gingen Hand in Hand durch diese stille helle Nacht; ich merkte nicht nur bei mir selbst, sondern auch bei Julia, dass der Schrecken des Feuers langsam von uns abfiel. Vor einem langen, schimmernden Stück Weg rannten wir, noch immer Hand in Hand, wie auf ein Kommando los und schlitterten über die zu Eis gewordene Fläche, schlitterten so kunstvoll, wie ich es zum letzten Mal als Schüler getan hatte. Da es schon sehr spät war, lachten wir nicht laut miteinander oder riefen uns Scherzworte zu, sondern sahen uns nur lächelnd an. Ein paarmal machten wir Schneebälle und warfen sie so hoch wir konnten. Wir hatten sehr viel Freude an unserem Spaziergang. Und als wir aus dem Stall eines Hauses das hohe Wiehern eines Pferdes hörten, war ich mir plötzlich wieder des grandiosen Umstandes bewusst, hier zu sein, hier in den Straßen von New York City im Winter 1882.
    Wir kamen zur 14th Street, bogen in östlicher Richtung ab und hatten nur noch das kurze Stück bis zum Irving Place vor uns, der direkt zum Gramercy Park führt. Vor uns erstrahlte ein Gebäude an der südöstlichen Ecke von 14th und Irving Place in hellem Licht und wir konnten die Klänge eines Walzers hören. »Die Akademie der Musik«, sagte Julia. Als wir das Haus erreichten, standen die Seitentüren offen, wir blieben stehen und warfen einen Blick hinein.
    Was wir sahen, erstaunte, ja blendete uns fast. Anstelle der gewohnten Stuhlreihen nahm das vordere Drittel des Raums ein Podium ein, auf dessen frisch gewachster, glänzender Tanzfläche sich Walzer tanzende Paare im Kreise drehten. Auf der Galerie spielte ein großes Orchester, alle Violinbögen in synchronen Bewegungen, und die Logen, die sich hufeisenförmig Stockwerk um Stockwerk um die ganze Bühne herumzogen, waren voll von lachenden, sich unterhaltenden Menschen, die auf die Tänzer herabblickten. Unzählige Zuschauer säumten das Podium, das von großen Blumenschalen begrenzt war, und hoch über der Bühne hingen große Buchstaben und Zahlen, die aus Gasröhren gebildet waren. In gelbweiß leuchtenden Flammenlettern stand dort Wohltätigkeitsball – 1882 .
    Der Ballsaal war in dieser weißen, stillen Winternacht eine Insel aus Licht, Musik und Vergnügen; es grenzte ans Wunderbare, aus der Nacht hier hereinzukommen. Die Männer trugen Frack und Fliege, die unterschiedliche Länge und der Schnitt ihrer Frisuren, noch mehr aber ihrer Bärte und Koteletten ließen sie interessant und individuell aussehen. Und die Frauen in ihren langen schulterfreien und überraschend freizügigen Garderoben – nun, wenn die alltäglichen Kleider der Achtziger langweilig und hochgeschlossen waren, so machten dies die Frauen in jener Nacht wieder wett. Ich kenne weder die Bezeichnungen dieser Frauenkleider noch die Materialien, aus denen sie bestanden; ich zitiere deshalb wieder aus einem Artikel der Times, die am nächsten Morgen über den Ball berichtete:
    Mrs. Grace trug cremefarbenen Satinbrokat mit Perlenstickerei. Mrs. R. H. L. Townsend trug blauen, mit goldenen Blättern und Blumen durchwirkten Satinbrokat. Mrs. Lloyd S. Bryce trug weißen Satinbrokat mit Spitzenbesatz. Mrs. Stephen H. Olin trug weiße, in sich gemusterte Seide mit Perlen- und Diamantornamenten. Mrs. Woolsey trug schwarzen Tüll

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