Zeitspuren: Mit einem Vorwort von Wolfgang Jeschke - Meisterwerke der Science Fiction (German Edition)
schickte, um einem Klassenkameraden, der in Denver des Mordes angeklagt war, zu helfen; nun lächelte Julia ein wenig.
Irgendwann im Laufe des Nachmittags, ich saß im Salon und blätterte eine Ausgabe von Harper’s Weekly durch, sah ich einen Polizisten mit dem typischen hohen Helm und dem langen blauen Mantel am Fenster vorbeikommen; am Kragenspiegel trug er die Streifen eines Sergeanten. Es klingelte, Tante Ada machte die Tür auf; Julia war irgendwo oben. Ich hörte den Polizisten an der Tür, der mit furchtbarer Aussprache langsam die Silben hersagte, als lese er sie ab: »Miss Charbonneau? Sie wohnt doch hier?« Tante Ada bejahte und rief Julia herunter. »Morley, Simon Morley. Er wohnt doch auch hier?«, fragte der Polizist. Ich stand auf und ging mit der Zeitung unter dem Arm in den Flur, bevor Tante Ada mich rufen konnte. Der Polizist stand auf den Eingangsstufen, in seiner Rechten hielt er ein kleines Stück Papier.
»Ich bin Simon Morley.«
Er nickte. »Dann kommen Sie mit.« Julia kam die Treppe herab, er nickte ihr zu. »Beide. Holen Sie Ihre Mäntel.«
»Warum?«, riefen Tante Ada und ich fast gleichzeitig. »Das werden Sie alles schon früh genug erfahren.« So wie er die Worte aussprach, hielt ich ihn für einen Iren.
»Nun, ich würde das ganz gerne jetzt gleich wissen«, sagte ich. »Sind wir verhaftet?«
»Das werden Sie verdammt noch mal sein, wenn Sie mir nicht Folge leisten!« Sein Verhalten war plötzlich aggressiv, so wie Polizisten oft sind, wenn man ihre Autorität infrage stellt. Julia legte kurz den Arm um ihre Tante und murmelte ihr beruhigend etwas zu. Ich wusste, dass wir uns nicht unbedingt in den Hochzeiten der Bürger- und Menschenrechte befanden, und schwieg daher, um Julias und meinetwillen.
Ich nahm meinen Mantel und meine Pelzkappe von dem großen Kleiderständer in der Diele, Julia holte ihren Mantel und ihre Haube aus dem Wandschrank unter der Treppe, versicherte ihrer Tante, dass wir bald wieder zurück seien und es keinen Grund gebe, sich Sorgen zu machen.
Am Bordstein wartete eine Kutsche auf uns. Ich hatte angenommen, dass wir zu Fuß gehen würden, der Polizist allerdings eilte an uns vorbei, öffnete den Schlag und wies uns unsere Plätze zu. Auf einem kleinen Klapp- und Notsitz saß ein Mann, der uns aufmerksam betrachtete. Ich half Julia auf die Bank, drängte mich dann zwischen dem Mann auf dem Notsitz und Julia ebenfalls hinein und spürte, wie die Kutsche unter meinem Gewicht nachgab. Der Polizist auf dem Gehweg schlug die Tür zu, während ich mich neben Julia niederließ; als ich zu ihm hinausschaute, flog sein Arm nach oben, und er salutierte – nicht besonders elegant, aber mit großem Respekt – vor dem Mann uns gegenüber. Die Zügel schnalzten, die Kutsche fuhr los, der Mann nickte dem Sergeant kühl und ruhig zu. Dann wandte er sich zu uns. Ich sah sein bemerkenswert einschüchterndes Gesicht und wusste plötzlich, wer er war. Noch nie zuvor hatte ich ihn gesehen, und dennoch wusste ich genau, wer er war; und da bekam ich mit einem Mal furchtbare Angst.
Er war groß und hatte wuchtige quadratische Schultern: Hier sehen Sie ein Foto, das ich von ihm gefunden habe. Er ist gut darauf getroffen, obwohl es weder den tiefen Haaransatz am Hinterkopf zeigt, noch den wahren Ausdruck seiner Augen – es waren vor allem seine Augen, die mir Furcht einjagten. Sie waren groß, grau, eng beieinanderstehend, genauso wie auf dem Bild, funkelten aber vor Interesse an unserem Aussehen. Sein Blick strich über unsere Gesichter und unsere Kleidung, als menschliche Wesen waren wir für ihn nicht existent. Wir stellten für ihn etwas dar, etwas Wichtiges, aber nicht als Menschen.
Er besaß den größten Schnauzbart, den ich jemals gesehen habe. Er verdeckte seinen ganzen Mund. Und wenn Sie glauben, dass dieser enorme Walrossschnauzer, der in seinem Gesicht stand, als sei er aus Holz geschnitzt, lustig oder komisch wirkte, dann täuschen Sie sich. Fasziniert starrte ich zurück und fragte mich, ob der Mund, der dahinter verborgen lag, so grausam aussah, dass er ihn verstecken musste.
Er trug einen schwarzen Mantel, der nun aufgeknöpft war; einen schwarzen, bortenbesetzten Anzug mit Stoff überzogenen Knöpfen darunter, eine einreihige schwarze Weste mit schwerer goldener Uhrkette, schwarze Schuhe, einen steifen Eckenkragen und eine große echt wirkende Perlenanstecknadel – diejenige, die wahrscheinlich auch auf dem Foto zu sehen ist. Aber all das konnte mich
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