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Zeitspuren: Mit einem Vorwort von Wolfgang Jeschke - Meisterwerke der Science Fiction (German Edition)

Zeitspuren: Mit einem Vorwort von Wolfgang Jeschke - Meisterwerke der Science Fiction (German Edition)

Titel: Zeitspuren: Mit einem Vorwort von Wolfgang Jeschke - Meisterwerke der Science Fiction (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jack Finney
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gewesen war. Die Flammen der gebrochenen Gasleitungen röhrten gedämpft und gleichmäßig vor sich hin, weiße Bögen aus Löschwasser fielen überall nieder. Aber das Feuer selbst war erloschen, ›die Zerstörung der Welt‹ vollbracht und war bereits – nicht Geschichte, sondern einfach – vergessen. In diesem Augenblick arbeitete eine Reihe von Illustratoren unter den Gaslichtern von Harper’s und bei Leslie’s Illustrated Newspaper, nur einige Blocks in westlicher Richtung entfernt, an der Park Street und dem College Place, an den Vorzeichnungen für die Holzschnitte, Abbildungen des Feuers, die in einer Woche erscheinen sollten. Die Frau neben mir ebenso wie andere Bewohner dieser Stadt würden vielleicht einen kurzen Blick auf die Bilder werfen und sich dann an das Ereignis wieder erinnern. Aber mir wurde bewusst, wie schnell diese Männer, die hier an den Illustrationen arbeiteten, wie schnell die ganze Bevölkerung, die ihre Werke bewunderte, verschwunden sein würden, auch diese Frau. Hier und dort würden einige Exemplare der Zeitungen in irgendwelchen Schubladen vergilben und zu etwas absonderlich Altmodischem werden, worüber man lächelt, wenn man es eines Tages findet. Und bald würden auch die Reste dieses Gebäudes und der schreckliche Brand aus dem Gedächtnis der Menschheit verschwunden sein. Einige Augenblicke lang, während wir uns von der Ruine, die stellenweise schon vom Schnee bedeckt war, entfernten, überkam mich ein Gefühl der Melancholie; das menschliche Leben war so kurz, so sinnlos. Es waren Gedanken, die man sonst nur nachts hat, wenn man aufwacht und sich allein auf der Welt glaubt. Aber ich kannte ja bereits die Zeit, in der es war, als hätten dieses Gebäude und dieses Feuer niemals existiert; also war mein Gefühl durchaus berechtigt.
    Wir bogen in die Nassau Street ein und – ohne uns abzusprechen, als ob wir die Gedanken des anderen gespürt hätten  – wir gingen auf einmal rascher, als wollten wir diesen Ort für immer hinter uns bringen. Vor uns, gegenüber dem Eingang zum Times Building, funktionierte die Straßenlampe noch; ihr heller Schein lag glänzend und schimmernd auf dem Schnee des Gehwegs. Auch auf diesem Gehweg war der Schnee fast unberührt, bis auf die Fußspuren eines einzelnen Menschen, die im Dunkel hinter der Laterne verschwanden. Als hätte jemand durch ein Fenster in das zerstörte Welt -Gebäude geblickt, dann die Nassau Street überquert und wäre auf dem Gehweg weitergegangen.
    Wir näherten uns diesen Fußspuren. Unsere eigenen liefen nun parallel zu den fremden. Dann, direkt unter der Lampe, ergriff ich Julias Arm, und wir blieben stehen. Deutlich in den Schnee eingedrückt, so wie wir es bereits einmal gesehen hatten, war die kleine Zeichnung eines Grabsteins; darauf ein aus unzähligen Punkten bestehender Kreis, der einen neunzackigen Stern umschloss. Dieses Mal aber war es eine ganze Reihe von Abbildungen. Hinter jedem Sohlenabdruck war eine in den Schnee gedrückt. »Wahrhaftig, es sind Abdrücke von Absätzen«, sagte ich. Dann beugte ich mich vor. »Der Stern und der Kreis sind die Abdrücke der Nägelköpfe.«
    Ich sah zu Julia hoch, verwirrt nickte sie. »Ja, natürlich. Männer tun das häufig, wenn sie sich Stiefel anfertigen lassen. Irgendein persönliches Zeichen.« Sie zuckte mit den Schultern. »Es soll Glück bringen.«
    Ich nickte verstehend. Das war Carmodys Zeichen; er war dem Feuer entronnen. Und vor wenigen Augenblicken war er noch einmal hier gewesen, um sich anzusehen, was er angerichtet hatte. Ich starrte noch ein wenig auf diesen seltsamen Abdruck im Schnee. Er war unter diesem Zeichen begraben worden. In ferner Zukunft würde seine Witwe den Leichnam waschen und ankleiden und ihn dann unter eben diesem Zeichen zur ewigen Ruhe betten. Warum? Was bedeutete das? Diese Frage war noch immer nicht beantwortet.
    Wir gingen den gesamten Weg zu Fuß zurück. Der Wind hatte nachgelassen, es schneite nicht mehr und war nicht mehr so kalt. Zu dieser späten Stunde, und wie so oft nach Schneestürmen, waren die Straßen wie leer gefegt; die Welt gehörte uns. Wir schlenderten straßauf, straßab, auf diesen alten, alten Straßen der alten, alten City von Lower Manhattan, immer von Osten nach Westen und zurück, ohne jedoch den Norden, unser Ziel, aus den Augen zu verlieren. Manchmal waren die Gehwege freigeschaufelt, wenn nicht, bewegten wir uns in den Spuren der Kutschen und Wagen vorwärts. Als in die Wolkendecke ein Loch riss,

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