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Zeitspuren: Mit einem Vorwort von Wolfgang Jeschke - Meisterwerke der Science Fiction (German Edition)

Zeitspuren: Mit einem Vorwort von Wolfgang Jeschke - Meisterwerke der Science Fiction (German Edition)

Titel: Zeitspuren: Mit einem Vorwort von Wolfgang Jeschke - Meisterwerke der Science Fiction (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jack Finney
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Wolkenkratzer an der Spitze von Manhattan Island, die höher und höher vor uns aufstiegen. Wir hatten einen vollkommen freien Blick auf Lower Manhattan und auf New Jersey, South Brooklyn, Staten Island und auf den Hafen, wenn wir zur Verrazano-Bridge hinüberblickten. Anfangs starrte Julia nur sprachlos hinüber. Dann wandte sie ihren Blick von den riesigen Gebäuden auf der Spitze Manhattans ab, die nun in der vollen Morgensonne leuchteten, und fragte: »Was hält sie bloß aufrecht?« Ich erklärte ihr, was ich über Stahlkonstruktionen wusste, brach aber mitten im Satz ab. Sie hörte nicht zu, sie hatte überhaupt kein Wort verstanden. Sie schaute nur immerzu auf Manhattan, bis sie plötzlich meinen Arm packte und sich ihr Gesicht erhellte. »Die neue Brücke!«, sagte sie und deutete auf die Brooklyn Bridge über dem East River, rechts von Manhattan.
    Ein Frachter, der auf die See hinaussteuerte, näherte sich uns und wurde immer größer; Julia blickte ihn ungläubig an. Als er schließlich ziemlich nahe an uns vorbeifuhr, seine Stahlwände wuchsen neben uns beinahe endlos in die Höhe, schmiegte sich Julia eng an mich, ihre Augen blinzelten. »Wird er uns rammen?«, fragte sie bänglich. »Kann er umkippen?« Ich sagte ihr, es sei unmöglich, aber während die schwarze klippenartige Wand des großen Schiffes an uns vorbeizog, ahnte ich, was sie empfand. Es sprach gegen jede Wahrscheinlichkeit, dass etwas so Großes und Hohes schwimmen konnte; ich fragte mich, was Julia beim Anblick der neuen Queen Elizabeth gesagt hätte, wenn sie gerade unseren Weg gekreuzt hätte.
    Und dann war über uns ein Flugzeug, eine viermotorige Propellermaschine, die nicht sehr hoch, vielleicht dreitausend Meter über dem Wasser, in den grauen Himmel stieg. Es freute mich, ihr etwas zeigen zu können, das sehr wahrscheinlich das Symbol unseres Jahrhunderts ist. »Schau, Julia«, sagte ich. Sie hörte das Geräusch, wusste aber nicht, wohin sie schauen sollte, bis ich nach oben zeigte. »Das ist ein Flugzeug.« Ich wartete, ein wenig selbstgefällig, glaube ich, dass sie ihr Erstaunen zum Ausdruck brachte. Aber sie schenkte ihm nur sehr kurz ihre Aufmerksamkeit, lächelte ein wenig, war interessiert und erfreut, aber nicht überrascht. Dann nickte sie mir zu. »Ich habe von ihnen gelesen, in Jules Verne. Natürlich habt ihr sie nun. Ich glaube, ich würde gerne damit fliegen. Gibt es viele davon?« Sie hatte sich bereits wieder dem zugewandt, was sie wirklich in Staunen versetzte: den tausendfenstrigen Hochhäusern von Manhattan.
    »Na ja, einige schon.« Ich musste über mich selbst lachen; es geschah mir ganz recht.
    Im Battery Park gab es an diesem Tag keine Einwanderer, als wir das Boot verließen. Nachdem wir den Park durchquert und auf der anderen Seite an einer Straße angekommen waren, blieb Julia plötzlich stehen und griff sich ans Herz. Erst glaubte ich, dass sie davon überwältigt war, dass es diese hoch aufragenden Gebäude wirklich gab, dass sie erschrocken war über die Straßen, die voll waren mit Taxis, Autos und Fußgängern, und den Lärm, den ganz gewöhnlichen Straßenlärm, und dem ohrenbetäubenden Dröhnen von Presslufthämmern. Aber sie schenkte nicht den Autos oder den Gebäuden besonderes Interesse, sondern vor allem den Menschen, den gewöhnlichen Leuten, die an uns vorbeieilten. Ich begriff, dass es nicht die Art ihrer Kleidung war, die sie staunen ließ. Ich erinnerte mich an meine eigene Ehrfurcht, die mich plötzlich überwältigt hatte, als ich Menschen aus dem Jahr 1882 sah, die wahrhaftig lebendig waren; ich glaubte dieselbe atemlos machende Verwunderung in Julias Gesicht erkennen zu können. Auf Liberty Island war sie so mit sich selbst beschäftigt gewesen, dass sie die Passagiere des Bootes kaum für wirkliche Menschen halten konnte. Aber nun ging es ihr wie mir damals; dies hier waren richtige Menschen, sie lebten, bewegten sich, redeten! Menschen, die mehr als ein Lebensalter nach ihr geboren werden würden. Als sie sich mir wieder zuwandte, war ihr Gesicht vor Aufregung ganz blass; sie konnte nur stumm den Kopf schütteln.
    Wir gingen das kurze Stück zum Broadway hoch, kamen an dem vorbei, was von Bowling Green noch übrig war, und ich sagte: »Weißt du, wo wir sind?«
    Die Frage traf sie, als hätte sie jemand in einer fremden Stadt gestellt, die sie niemals zuvor gesehen hatte. Sie blickte die Straße auf und ab, versuchte sich zu orientieren, schaute mich an, noch immer von dem, was sie

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