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Zeitspuren: Mit einem Vorwort von Wolfgang Jeschke - Meisterwerke der Science Fiction (German Edition)

Zeitspuren: Mit einem Vorwort von Wolfgang Jeschke - Meisterwerke der Science Fiction (German Edition)

Titel: Zeitspuren: Mit einem Vorwort von Wolfgang Jeschke - Meisterwerke der Science Fiction (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jack Finney
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der Freiheitsstatue. Und dann überlegte ich: Könnte es möglich sein? Ich dachte nach, kam zu dem Schluss, dass es vielleicht klappen könnte, und schloss vorsichtig meine Arme um Julia, presste meine Wange an ihre Stirn, hielt sie fest und machte sie, so weit das möglich war, zu einem Teil von mir. In der Technik, die Oscar Rossoff mich gelehrt hatte, begann ich dann, meinen Geist von der Zeit, in der ich mich befand, zu befreien. Denn auch diese große metallene Hand mit ihrer Fackel war Teil der beiden New Yorks, die ich kannte, und existierte in beiden Zeiten. Und in meinem Geist erweckte ich das zwanzigste Jahrhundert zum Leben. Konzentrierte mich darauf, wo ich mich befand, wo wir uns befanden, Julia und ich. Und spürte, wie es funktionierte.
    Meine Arme umklammerten sie und hielten in diesem Moment Julia noch fester als zuvor; sie bewegte sich und öffnete die Augen. Mit fragendem Blick schaute sie mich an. »Wo …« Dann blickte sie sich um, erkannte, wo sie war, sagte »Oh« und lächelte. Ich ließ sie los und erhob mich steif. Auch sie stand auf, und wir traten hinaus auf die Plattform. Die Dunkelheit war verschwunden, Helligkeit durchzog die Luft, aber noch konnten wir nichts genau erkennen. Wir hörten es. Ich hatte es erwartet und kannte das Geräusch, dann schaute ich zu Julia. Auf ihrem Gesicht malte sich Erstaunen; stirnrunzelnd sah sie mich an. »Wellen!«, sagte sie. »Si, ich höre Wellen, ich könnte es schwören!« Dann sog sie die Luft ein. »Und ich kann das Meer riechen.« Sie hatte Angst. »Si, was …«
    Ich legte den Arm um ihre Schulter und sagte ruhig: »Julia, wir sind entkommen. Die Geschichte, die ich letzte Nacht erzählt habe, stimmt. Es ist die Wahrheit, Julia. Ich habe dich in meine eigene Zeit mitgenommen.«
    Sie starrte mir ins Gesicht, erkannte die Aufrichtigkeit, die Wahrheit in meinen Augen und vergrub ihren Kopf an meiner Brust. »Oh Si, ich habe Angst! Ich kann nicht hinsehen.«
    Vor uns hatte sich der Himmel aufgehellt, der Horizont war nun rötlich gefärbt, und die winzigen Wellenkämme im Hafen unter uns waren zu erkennen. »Doch, du kannst«, sagte ich, hob ihr Kinn an, ihren Kopf, und ließ sie nach Osten blicken. Sie sah hinaus, sah das Wasser und den Hafen tief unter uns; dann drehte sie sich um und sah den blauen Grünspan, die Patina von Jahrzehnten, und die riesige Kupferfackel, und begann zu zittern.
    Ihre Schultern zuckten vor Angst – dennoch konnte sie nicht aufhören zu schauen. Sie blickte weit über die Stadt, und alles, was sie sagte, war »Oh Si!«, ein ängstlicher, aufgeregter, ja verzückter Ausruf. Ihr Gesicht war kreidebleich, ihre Hand, die sie gegen ihre Wange presste, zitterte, aber sie begann zu lächeln.
    Weit draußen berührte plötzlich der erste dünne Streifen Sonne den Rand des Ozeans, und nun konnten wir auch die Schiffe sehen. Dann, die Sonne stieg über den Horizont, nahm ich Julias Hand, und wir gingen um unseren kleinen Kreis der Plattform herum. Auf der anderen Seite blieb Julia stocksteif stehen, atemlos verharrte sie, während sie über den Hafen auf die erstaunlichen, hoch aufragenden Wolkenkratzer blickte, die die Spitze von Manhattan Island einnahmen; ihre unzähligen Fenster glitzerten orangerot in der Morgendämmerung.

21
    Wir nahmen das erste Ausflugsboot nach Manhattan zurück. Die wenigen Wintertouristen, die ausstiegen, betrachteten Julias Kleidung mit einer gewissen Neugier, während wir darauf warteten, an Bord gehen zu können. Mich dagegen beachteten sie nicht weiter, denn mein Mantel und meine runde Pelzkappe unterschieden sich kaum von denen der anderen. Es war das einzige Boot am Tag, das immer ohne Passagiere nach New York zurückkehrte – bis auf dieses Mal, als wir an Bord gingen. Das nächste Boot entließ seine Neuankömmlinge und nahm die ersten Besucher wieder mit, und so weiter, den ganzen Tag über. Ich war dafür dankbar; ich wollte jetzt lieber alleine mit Julia sein. Ein wenig streitlustig fragte der Bootsführer, woher wir kämen. Ich sagte, wir hätten das letzte Boot gestern Nachmittag verpasst und die Nacht auf der Insel verbracht. Er brauchte eine Sekunde, um zu entscheiden, was er davon halten sollte, dann grinste er ein wenig zweideutig und winkte uns aufs Boot; unsere Kleidung schien ihn überhaupt nicht zu stören.
    Das Oberdeck war geöffnet; wir stiegen hoch, als das Boot in den Kanal auslief. Dann fuhren wir auf Manhattan zu. Julia stand reglos neben mir und schaute auf die

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