Zeitspuren: Mit einem Vorwort von Wolfgang Jeschke - Meisterwerke der Science Fiction (German Edition)
nach Julias Zukunft. Aber das würde sich erst mit der Zeit herausstellen; ich ging darauf nicht ein, weil ich darüber nichts zu sagen hatte, und es vieles gab, worüber ich erst nachdenken musste.
Es gab andere Dinge, die ich Julia zeigen wollte. Nach einer Weile verließen wir die Bar und suchten uns ein Taxi. Es war noch immer hell, und ich fuhr mit Julia hinauf zum Besucherdeck des Empire State Building. Während der unendlich erscheinenden Expressfahrt im Aufzug betrachtete Julia die Stockwerksanzeige; sie musste sich vergewissern, dass wir uns wirklich so schnell und so weit nach oben bewegten. Sie hielt meine Hand fest umklammert. Auf der von einer Steinbalustrade umgebenen offenen Plattform, über neunzig Stockwerke über der Erde, blickte sie über den Dunst der Stadt und musste sich immer wieder klar machen, dass die weit entfernte Grünfläche vor ihr wirklich der Central Park war und dass das mit Autos überfüllte Straßennetz, das sich tief unter uns ausdehnte, wirklich die Stadt war, die sie so gut gekannt hatte und die ihr nun so fremd vorkam. Sie ließ ihre Blicke über die Stadt, den Park, die Flüsse schweifen. Dann blickte sie in den Himmel hoch und zeigte auf eine bemerkenswerte Wolke, wie sie noch nie eine gesehen hatte. Ich schaute nach oben, und auf gewisse Weise hielt ich sie wirklich für eine Wolke – sie war zur Wolke geworden. Hoch in der Luft war es vermutlich ganz windstill, und der Kondensstreifen eines Flugzeugs hatte sich zu einer absolut geraden, dünnen, meilenlangen Wolke aufgelöst, die von der untergehenden Sonne berührt wurde. Und dann sah auch ich dies nicht mehr als Kondensstreifen, sondern als außergewöhnliche Wolke; ein weiteres Beispiel dafür, wie anders Julias Blick auf meine Welt war.
Sie hörte voll Interesse zu, als ich ihr erklärte, was diese Wolke wirklich war. Und sie genoss unseren Aufenthalt hoch oben in den Lüften, sie war beeindruckt und aufgeregt. Schließlich aber wandte sie sich von der Balustrade ab und seufzte ein wenig. »Es ist nun genug, Si. Mehr kann ich nicht verkraften. Bring mich bitte nach Hause.«
Statt zum Abendessen in einem Restaurant zu speisen, kauften wir in einem Delikatessengeschäft Steaks und tiefgekühltes Gemüse. Das Gemüse – Mais und Brokkoli, die sich hart gefroren in einer transparenten Plastikhülle befanden und die ich mitsamt der Hülle in kochendes Wasser fallen ließ – faszinierte Julia. Wie uns allen heutzutage auch, gefiel ihr die einfache Zubereitungsweise, aber natürlich war der Geschmack etwas anders – eigentlich fehlte er ganz – aber sie war sehr höflich.
Den Kaffee nahmen wir im Wohnzimmer. Erfrischt und gestärkt sagte Julia: »Ich habe nun deine Welt gesehen, Si; ich habe einen kleinen Einblick gewonnen. Nun sag mir, was in all den Jahren geschehen ist – in den Jahren zwischen meiner Zeit und dieser.« Sie kuschelte sich in die Kissen des Diwans und schaute mich so erwartungsvoll an wie ein Kind, das eine Geschichte hören möchte.
Ich nehme an, ihr Lächeln und ihre freudige Erwartung hatten mich beeinflusst, denn ich ertappte mich dabei – wo fängt man an? Wie fasst man all die Jahrzehnte zusammen –, dass ich mit den erfreulichen Dingen begann. »Nun, die Pocken sind fast ausgerottet, man sieht keine Pockennarben mehr. Ebenso die Cholera. Ich glaube, seit Jahren ist kein derartiger Fall mehr aufgetreten. Zumindest nicht in den Vereinigten Staaten.« Julia nickte. »Und Polio – Kinderlähmung. Auch fast ausgerottet, wenigstens in den zivilisierten Ländern.«
Wieder nickte sie; sie schien das erwartet zu haben. »Und Herzkrankheiten auch? Und Krebs?«
»Nein, noch nicht. Aber wir setzen neue Herzen ein! Entfernen chirurgisch das kranke Herz und ersetzen es durch das eines soeben Verstorbenen.«
»Das klingt ja wie ein Wunder! Und sie können tatsächlich damit weiterleben?«
»Nun, nicht allzu lange, meistens. Es funktioniert nicht besonders gut. Aber irgendwann wird es das.«
»Und wie lange leben die Menschen? Sicherlich über hundert Jahre und mehr. Ich habe eine Voraussage im Atlantic Monthly gelesen …«
»Eigentlich, Julia, scheinen die Leute kaum länger zu leben als in deiner Zeit. Es gibt da einige andere, neue Dinge, die uns, äh – das Leben verkürzen oder uns umbringen und die es zu deiner Zeit noch nicht gegeben hat. Luftverschmutzung zum Beispiel. Aber immerhin gibt es Klimaanlagen.«
»Was ist das?«
»Maschinen, die im Sommer die Luft
Weitere Kostenlose Bücher