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Zeitspuren: Mit einem Vorwort von Wolfgang Jeschke - Meisterwerke der Science Fiction (German Edition)

Zeitspuren: Mit einem Vorwort von Wolfgang Jeschke - Meisterwerke der Science Fiction (German Edition)

Titel: Zeitspuren: Mit einem Vorwort von Wolfgang Jeschke - Meisterwerke der Science Fiction (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jack Finney
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noch ein Buch heraus. Sie las den Titel laut vor, hörte sich selbst jedoch kaum zu, da sie noch immer damit beschäftigt war, das schreckliche Thema, auf das sie gestoßen war, zu begreifen. »›Eine illustrierte Geschichte des I. Weltkriegs. ‹« Dann wurde ihr die Bedeutung der Worte bewusst. »Ein Krieg? Ein Weltkrieg? Was bedeutet das, Si?« Sie schlug das Buch auf, aber ich war schon auf den Beinen und sofort bei ihr.
    Es ist immer wieder erstaunlich, wenn man feststellt, wie schnell das Gehirn manchmal arbeitet, welch lange Sequenzen von Bildern und Gedanken im Bruchteil einer Sekunde produziert werden können. Es war schon eine Weile her, dass ich das Buch, das Julia gerade öffnen wollte, angeschaut hatte. Aber während der zwei schnellen Schritte zu ihr erinnerte ich mich an ein Dutzend Fotografien in diesem Buch: eine zerstörte Stadt, nur noch Ruinen und Schutt, im Vordergrund ein totes Pferd in einem Graben … Flüchtlinge auf einer Straße, das verängstigte Gesicht eines kleinen Mädchens, das in die Kamera blickt … ein Flugzeug, das in Flammen aufgeht … ein Schützengraben voller toter Soldaten, die Beine mit Stofffetzen umwickelt, das Gesicht des einen bereits so verwest, dass die Schädelknochen zu sehen waren, obwohl er noch Haare auf dem Kopf hatte. An eine der Fotografien erinnerte ich mich in allen Einzelheiten: Auf einem brettartigen Vorsprung, der in die Wand des Schützengrabens getrieben war, saß ein Soldat. Er trug keine Kopfbedeckung, seine Füße standen knöcheltief im Wasser, das den Boden des Grabens bedeckte, und direkt neben ihm lag eine Leiche; er rauchte eine Zigarette und blickte mit leeren Augen abgestumpft in die Kamera, so als ob er niemals gelächelt hätte und niemals wieder lächeln würde. Diese Schrecken, wurde mir plötzlich klar, sollte Julia nicht sehen, bis sie nicht selbst Teil dieser Welt geworden war, die dieses Elend geschaffen hatte. Ich zwang mich zu einem Lächeln und nahm ihr das Buch aus der Hand, bevor sie es sich anschauen konnte. »Oh ja«, sagte ich leichthin, drehte das Buch um und betrachtete den goldenen Titel auf dem Rücken, als wollte ich mich des Titels vergewissern. »Das ist vor langer Zeit geschehen.«
    »Ein Weltkrieg?«
    »Man nannte ihn so, Julia, da … da die gesamte Welt davon betroffen war. Es ging alle an, verstehst du, und … sie machten dem bald ein Ende. Ich hatte es beinahe vergessen.«
    Ob das für sie einen Sinn ergab, weiß ich nicht. »Und was bedeutet das große ›i‹ vor Weltkrieg?«, fragte sie.
    »Nun …« Mir fiel nichts anderes als die Wahrheit ein. »Das ist kein Buchstabe, Julia, sondern eine Zahl. Eine römische Zahl.«
    »Erster … Weltkrieg? Gab es denn noch mehr?«
    »Einen zweiten.«
    Sie glaubte mir wohl nicht ganz. »Und – was ist da passiert?«
    Ich konzentrierte mich erneut. In kürzester Zeit hatte ich die vier langen Jahre Stellungskrieg an mir vorbeiziehen lassen: die Schlacht von Verdun, in der Millionen von Menschen starben, den U-Boot-Krieg. Dann dachte ich an den Zweiten Weltkrieg und die Zerstörung der Städte durch die Deutschen, das Morden von Frauen, alten Menschen und Kindern; und die Bombardierung der deutschen Städte durch die Amerikaner, bei denen Feuerstürme entstanden, die mit Geschwindigkeiten von über hundert Stundenkilometern Frauen, Alte und Kinder einäscherten. Und an einen Mann, den ich mir oft vorzustellen versuchte: einen deutschen Ingenieur, der jeden Morgen aufstand, frühstückte, in sein Büro ging, an seinem Zeichenbrett saß, sorgfältig die Ärmel hochkrempelte und dann sehr sauber und detailliert mit Tinte Zeichnungen und präzise Produktionsangaben von falschen Duschköpfen entwarf, aus denen schließlich Gas ausströmen sollte, das in Todesfabriken Millionen von Menschen tötete. Und ich dachte an Menschen, die noch effizienter getötet wurden: den sofortigen Tod von Hunderttausenden in den grellen Blitzen der beiden Atombomben über Japan. Wie war der Zweite Weltkrieg? Unglaublich, er war schlimmer als der Erste Weltkrieg; mir fiel keine Antwort oder dumme Lüge ein.
    Ich glaube, sie erriet es. Sie wusste, dass sie nicht umsonst ›Weltkriege‹ genannt wurden. Sie betrachtete den Umfang der illustrierten Geschichte, die ich ihr aus der Hand genommen hatte, dann sah sie mich zögernd an und sagte: »Ich will lieber nichts darüber hören.«
    »Und ich will lieber nicht darüber reden.« Ich stellte das Buch wieder an seinen Platz, und wir kehrten zum

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