Zeitspuren: Mit einem Vorwort von Wolfgang Jeschke - Meisterwerke der Science Fiction (German Edition)
erstaunlichen Gebäude darstellten, welche nun plötzlich vor ihr lagen, war fast zu viel. »5th Avenue, vielleicht«, sagte sie schwach, und dann ungläubig: »Das ist die 5th Avenue?«
»Ja.«
Eine ganze Minute lang standen wir nur da, schauten die Straße hinunter und erinnerten uns daran, wie sie einmal gewesen war. Dann brachte Julia ein zaghaftes Lächeln zustande, und wir gingen die 5th hinunter, kamen an den glitzernden Giganten, den atemberaubend schönen und unbeschreiblich hässlichen architektonischen Gebilden vorbei, die die halbe Menschheit aus Filmen kennt oder auch tatsächlich gesehen hat. Diese hohen Bauwerke mit ihren glatten Fassaden und Wänden aus Glas erscheinen selbst modernen Augen fremd. Ich bin mir nicht sicher, ob Julia überhaupt in der Lage war, sie zu begreifen, so sehr unterschieden sie sich von allem, was sie kannte. Es war ihr kaum möglich, glaube ich, dies alles aufzunehmen und zu verarbeiten, denn als sie über die 51st Street schaute, kniff sie plötzlich die Augen zusammen, als wolle sie sich dessen vergewissern, was sie dort sah; es ging ihr ähnlich wie mir damals, nur nahm es sie weit mehr mit – beim Anblick der nahezu unveränderten St. Patrick’s Cathedral, die in dieser fremden Welt stand, brach sie in Tränen aus. Gegenüber der Kathedrale, am Rockefeller Center, das Julia nicht einmal wahrnahm, gab es Steinbänke, zu denen ich Julia führte. Wir setzten uns, und sie starrte hinüber zur St. Pat’s; dann blickte sie die 5th Avenue hinauf, wieder zurück zur St. Patrick’s, die ihr als Orientierungspunkt diente, und die 5th hinunter nach Süden. Dann wanderte ihr Blick wieder zurück zur Kathedrale. Die Kirche bestärkte sie in der Gewissheit, dass sie wirklich da war, wo sie war, das ihr wohlbekannte Bauwerk bot ihr Ruhe und Sicherheit. Schließlich gingen wir weiter, hier und dort stieß sie auf altbekannte Namen; Modegeschäfte, die sie vom Broadway her kannte. Wir blieben stehen, und sie schaute gebannt auf die funkelnden Auslagen in den Schaufenstern, war fasziniert von den Juwelen, den Kleidern, Pelzen, Hüten und Schuhen. »Die Ladies’ Mile«, sagte ich; sie nickte.
»Ich glaube, es gefällt mir. Ich glaube, wahrscheinlich …« Sie zögerte und fuhr dann fort. »Es sieht alles sehr seltsam aus, aber ich glaube, dass mir diese Sachen gefallen könnten.« Wieder blickte sie lange die 5th Avenue hinauf und hinunter. »Sogar diese Gebäude.« Sie schüttelte den Kopf. »Wer hätte das gedacht? Wer hätte sich das jemals vorstellen können?«
An der 42nd Street betrachteten wir das rußgeschwärzte Gebäude der Public Library, und wir wunderten uns beide, dass das große Wasserreservoir nicht mehr vorhanden war. Dann – sie brauchte eine Pause nach all diesen neuen Eindrücken – führte ich sie in eine kleine Bar in der 39th Street. Erst weigerte sie sich, in den ›Saloon‹ mitzukommen, akzeptierte dann allerdings, dass heutzutage Frauen viele Dinge taten, die ihnen damals nicht möglich waren.
Wir saßen an einem Tisch in der Ecke, ein Stück von der Bar entfernt; nur ein anderes Paar war noch da. Julia trank ein Glas Wein, ich einen Whiskey mit Soda, und sie wurde langsam ruhiger. Im stillen Einvernehmen hatten wir bislang nicht über das gesprochen, was wir hinter uns gelassen hatten; wir brauchten Abstand, aber nun redeten wir plötzlich über den Brand … über Jake Pickering … über Carmodys seltsames Verhalten und über unsere Flucht vor Inspektor Byrnes. In dieser Bar, mit den Geräuschen des heutigen New York, die überall präsent waren, klangen die Namen sehr seltsam, fast ein wenig komisch; sie gehörten einer längst vergangenen Zeit an. Dass wir uns vor dem Inspektor mit seinem Walrossschnauzer, der noch niemals etwas von Fingerabdrücken gehörte hatte, wirklich gefürchtet hatten, schien absurd; hatten wir wirklich Angst gehabt, oder hatten wir nur an einem harmlosen Theaterspiel teilgenommen? So ungefähr lautete der Tenor meiner Gedanken, weswegen ich auch mit einem Lächeln auf den Lippen sprach. Für Julia aber war es ernst; sie verstand mein Lächeln nicht. Natürlich sprachen wir von einer Welt, in der Byrnes, Pickering, Carmody und das Feuer im Welt -Gebäude für sie sehr viel realer waren als für mich.
Wir erzählten uns nichts Neues; wir gehorchten einfach der inneren Notwendigkeit, endlich über diese Dinge zu reden. Julia machte sich Sorgen, was ihre Tante denken mochte; unausgesprochen lag über allem die Frage
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