Zeitspuren: Mit einem Vorwort von Wolfgang Jeschke - Meisterwerke der Science Fiction (German Edition)
Diwan zurück. Aber Julia ließ sich nicht bequem in die Kissen zurückfallen. Sie saß auf der Kante des Diwans, die Hände in ihrem Schoß gefaltet – eigentlich zusammengepresst. Einige Augenblicke lang schwieg sie; sie musste wohl ihre Gedanken ordnen. »Während des ganzen Tages«, begann sie dann, »habe ich darüber nachgedacht, was ich am liebsten tun würde. Und habe überlegt, dass ich vielleicht hierbleiben würde, wenn es möglich wäre, Tante Ada Bescheid zu geben. Und dann, als wir die 5th Avenue entlanggingen, habe ich den Entschluss gefasst, falls wir es Ada sagen könnten, tatsächlich hierzubleiben.« Ich saß neben Julia, die mich nun mit einem schüchternen Lächeln ansah. »Ich habe niemals gedacht, dass ich das einen Mann fragen könnte, aber ich kann es: Liebst du mich, Si?«
»Ja.«
»Und ich dich. Von Anfang an, als ich es selbst noch nicht einmal wusste. Aber Jake hatte es erraten, nicht wahr? Er spürte es. Nun weiß ich es auch. Was soll ich tun, Si? Wie soll ich mich entscheiden? Soll ich hierbleiben?«
Eigentlich hatte ich angenommen, dass ich lange darüber würde nachdenken müssen, nun aber erkannte ich, dass das gar nicht nötig war. Ich nehme an, Julia glaubte, dass ich mir die Antwort durch den Kopf gehen ließ, während ich dasaß und sie ansah; aber das war nicht der Fall. Im Stillen sprach ich zu Julia. Nein, sagte ich, ich werde nicht zulassen, dass du hierbleibst. Julia. Wir sind Menschen, die die Luft, die wir atmen, verpesten. Und die Flüsse. Wir zerstören die großen Seen; der Eriesee ist bereits tot, und nun beginnen wir mit den Meeren. Wir füllen die Atmosphäre mit radioaktivem Niederschlag und vergiften die Knochen unserer Kinder. Und wir wissen das alles. Wir stellen Raketen her, die innerhalb weniger Minuten die gesamte Menschheit auslöschen können; sie sind bereits auf ihre Ziele gerichtet und bereit, abgefeuert zu werden. Wir haben endlich die Kinderlähmung besiegt, und dann entwickelte die U.S. Army neue Bakterienstämme, die unheilbare Krankheiten verursachen. Wir hatten die Möglichkeit, den Schwarzen in Amerika Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, und als sie sie einforderten, widersetzten wir uns. In Asien haben wir Menschen lebend verbrannt. Wir erlauben, dass in den Vereinigten Staaten Kinder unterernährt aufwachsen. Wir erlauben, dass Leute Geld damit verdienen, indem sie auf unseren Fernsehkanälen unsere Kinder zum Rauchen überreden, obwohl wir wissen, welche Folgen das hat. Wir leben in einer Zeit, in der es immer schwieriger wird, sich einzureden, welch gute Menschen wir nach wie vor sind. Wir hassen uns gegenseitig. Und wir haben uns daran gewöhnt.
Ich hörte auf; ich würde nichts von alledem sagen. Diese Bürde war nicht die ihrige. Stattdessen sagte ich: »Warst du einmal in Harlem?«
»Ja, natürlich.«
»Gefällt es dir dort?«
»Sicher. Es ist zauberhaft. Ich habe das Land immer gemocht.«
»Bist du jemals nachts im Central Park spazieren gegangen?«
»Ja.«
»Allein?«
»Ja, es ist dort so friedlich.«
Julias Zeit hatte ihre eigenen Schrecken, ich wusste das. Ich wusste, dass die Saat all dessen, was ich in meiner Zeit hasste, in der ihren ausgebracht worden war. Aber sie war noch nicht aufgegangen. In Julias New York konnten sich die Straßen in einer Mondscheinnacht nach Neuschnee noch mit Schlitten füllen, Fremde sich Scherzworte zurufen und miteinander singen und lachen. Das Leben hatte noch einen Sinn und Zweck im Denken der Menschen; die große Leere hatte noch nicht eingesetzt. Nun schienen die guten Zeiten lange vorüber, wahrscheinlich waren Julias Tage die letzten gewesen. »Du musst zurück«, sagte ich zu Julia und nahm ihre Hände in meine. »Glaub mir, Julia. Weil ich dich liebe. Du kannst nicht hierbleiben.«
Nach einer Weile nickte sie bedächtig. »Und du, Si wirst du auch kommen?«
Die Freude, die mich bei dem Gedanken daran erfüllte, stand mir wohl im Gesicht geschrieben, denn Julia lächelte. Und trotzdem musste ich sie enttäuschen. »Ich weiß es nicht. Ich habe hier noch einiges zu erledigen.«
»Und du weißt nicht, ob du es kannst. Bis zum Ende deines Lebens?«
»Ich muss mir erst ganz sicher sein.«
»Ja, das musst du. Um unsertwillen.« Einige Augenblicke schauten wir uns an, dann sagte Julia: »Ich werde zurückgehen, Si, jetzt, heute Nacht. Sonst würde ich dich nur immer dazu drängen mitzukommen. Und den Rest deines Lebens in einer anderen Zeit zu verbringen – das ist ganz alleine
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