Zeitspuren: Mit einem Vorwort von Wolfgang Jeschke - Meisterwerke der Science Fiction (German Edition)
verbarg. »Die Zeit«, sagte sie, »in die ich geboren wurde und zu der ich gehöre, ist da, Si; sie ist sehr viel wirklicher als die Zeit, auf die ich heute einen kurzen Blick werfen konnte. Meine eigene Welt … kann ich spüren, sie ist in mir und sie ist sehr real.« Ich nickte; ich konnte nicht sprechen. Julia küsste mich schnell, dann ließ sie meine Hand los und ging auf die riesige Wand zu. Als sie dort angekommen war, zögerte sie einen Moment, blickte zurück, als wolle sie noch etwas sagen, tat es aber nicht. Dann noch ein paar Schritte und sie war hinter dem mächtigen Turmfundament verschwunden. Bald war auch nichts mehr von ihr zu hören.
Stille. Da begann ich zu laufen, so schnell ich konnte, bis ich an derselben Stelle angelangt war, umrundete sie schneller, als es Julia möglich gewesen wäre. Aber sie war nicht mehr da.
22
»Es mag Ihnen vielleicht ungehörig und geschmacklos erscheinen«, sagte Colonel Esterhazy; mit einer Handbewegung umfing er Dr. Danzigers Büro. Er saß hinter dem Schreibtisch. Rube und ich waren gerade eingetreten und hatten auf den beiden lederbezogenen Metallstühlen Platz genommen. Wie Rube trug Esterhazy Hose und Hemd der Army, ohne Rangabzeichen, aber so erbarmungslos gebügelt, dass der Stoff khakifarbenen Metallplatten glich. Rubes Kleidung sah vielleicht nicht ganz so ordentlich aus. Ich trug meinen normalen blauen Anzug. »Aber ich bin nur hier«, sagte Esterhazy, »weil wir nicht genug Räume haben; das war das einzige Büro, das leer stand. Irgendjemand muss das Projekt schließlich leiten, jetzt, da Dr. Danziger nicht mehr hier ist.« Bedauernd zuckte er mit den Schultern. »Ich wünschte, er säße statt meiner hier.«
Ich sagte nichts dazu. Ich hatte mich im Zimmer umgesehen, als wir eingetreten waren; es sah genauso aus wie früher, nur aufgeräumter. Danzigers Fotografien, sein Bücherregal und der Pappkarton mit den Papieren waren verschwunden, ein halbes Dutzend Klappstühle stand nun stattdessen dort. Der Schreibtisch war leer bis auf eine Schale für Stifte, ich stellte mir vor, dass die Schubladen ausgeräumt worden waren. Hinter dem Schreibtisch stand nun eine amerikanische Fahne aus Nylon mit goldenen Fransen, an der Wand hing eine große gerahmte Farbfotografie des Präsidenten.
»Der Abschlusstest ist gut verlaufen«, sagte Rube zu Esterhazy, »wie ich Ihnen bereits am Telefon mitgeteilt habe. Glauben Sie mir, wir sind darüber sehr erleichtert.« Lächelnd wandte er sich mir zu. »Denn Sie waren auf diesem Trip sehr geschäftig, nicht wahr? Sie entkamen dem Feuer, Sie entkamen … wie hieß er gleich wieder?«
»Inspektor Byrnes.«
»Ja. Und Sie entkamen auch, nehme ich an, dem Mädchen. Julia.«
Ich lächelte; die beiden Männer sahen mich eine Weile freundlich grinsend an. Den ganzen Morgen hatte ich bei ihnen im Projekt verbracht, hatte meine Liste mit Zufallsfakten heruntergeleiert und einen langen, vollständigen Bericht über alles diktiert, was ich während des letzten ›Trip‹, wie wir es nun zu nennen schienen, erlebt hatte. Außer, dass Julia mit mir zurückgekommen war. Das hatte nichts mit dem Gelingen oder Misslingen meiner Mission zu tun; ich hatte also nur angegeben, dass, als wir uns mitten in der Nacht auf dem Arm der Freiheitsstatue versteckt hielten, Julia sich an das Nagelmuster von Jakes Stiefel erinnerte. Wir waren uns sicher gewesen, dass uns nichts mehr passieren konnte; in der Morgendämmerung hatte ich sie zu ihrem Haus Gramercy Park neunzehn zurückgebracht, hatte mein Geld geholt und war mit einer Droschke zum Dakota gefahren. Den gestrigen Tag, sagte ich, hatte ich schlafend im Apartment verbracht.
»Wenn der Einsatz also«, sagte Rube, »nach all diesen Streichen in Ordnung zu sein scheint, dann bedeutet das, dass der Strom der Ereignisse …«
»… sich so verhält, wie wir das immer vermutet haben«, unterbrach ihn Esterhazy. »Die ›Zweig-im-Fluss‹-Theorie«, erinnerte er mich brüsk. »Der Strom vergangener Ereignisse ist ein wahrhaft mächtiger Strom, der so leicht nicht abzulenken ist – das sollte nun deutlich geworden sein. Es kann passieren – es gibt solche Zufälle, wie wir erfahren mussten –, aber die Konsequenzen sind nicht gravierend. Jedenfalls nicht in Bezug auf die Entwicklung der Geschichte. Aber wir zweifeln nicht daran, ebenso wenig wie Dr. Danziger, dass dieser Strom absichtlich beeinflusst werden könnte.«
Es fiel mir schwer, ihm zu folgen; als er schließlich einhielt,
Weitere Kostenlose Bücher