Zeitspuren: Mit einem Vorwort von Wolfgang Jeschke - Meisterwerke der Science Fiction (German Edition)
Anekdoten. Und als ich schließlich ging, trennten wir uns, so glaube ich, in aller Freundschaft. Ich wusste genau, dass ich mich darüber freuen würde, Kate eines Tages wiederzusehen.
Auf dem Nachhauseweg kamen mir plötzlich Zweifel, und meine eben noch heitere Stimmung verdüsterte sich. War es mir überhaupt möglich, zu Julia zurückzugehen und mein Leben mit ihr zu verbringen? Konnte ich das, wenn ich die Zukunft kannte? Konnte ich im New York des neunzehnten Jahrhunderts leben und Kinder in ihrem Kinderwagen ansehen, wenn ich wusste, was sie erwartete? Es war eine vergangene Zeit, praktisch alle, die damals lebten, waren seit Langem tot. Konnte ich wirklich ein Teil davon werden?
Während der nächsten Woche trug ich diese Frage immer mit mir herum; ich wollte die Antwort nicht erzwingen. Stattdessen vollendete ich einige Zeichnungen und begann diesen Bericht; ich arbeitete stetig und schnell und schrieb mit der Hand, da ich keine Schreibmaschine besaß, unterbrach meine Arbeit nur zum Essen oder machte hin und wieder einen Spaziergang, tat aber sonst nicht viel. Es half mir nachzudenken, wenn sich meine Gedanken nicht direkt mit dem beschäftigten, womit sie sich beschäftigen sollten. Manchmal dachte ich an Rube Prien und musste lächeln; wenn er gewusst hätte, was ich hier tat, hätte er jede einzelne Seite mit Streng vertraulich gestempelt oder sie gleich verbrannt – was ich natürlich auch tun müsste, wenn ich nicht zu Julia zurückkehrte und das Manuskript mitnahm. Ich habe einen Freund, einen Schriftsteller, und ich bin sicher, er ist der Einzige, der jemals den großen Stapel brüchig werdender, alter religiöser Schriften in der Abteilung für seltene Bücher in der Public Library New Yorks durchgesehen hat. Sollte ich bei Julia bleiben, könnte ich das Manuskript vollenden, dachte ich, und dann, wann immer – 1911? – diese Bibliothek erbaut wurde, könnte ich es dort hinterlegen, wo er eines Tages darauf stoßen würde. Ich saß an meinem Küchentisch, arbeitete und lächelte in mich hinein; die Idee gefiel mir. Sie verlieh mir das Gefühl, einen weiteren Grund zu haben dorthin zu gehen. Aber der wahre Grund wollte sich nicht einstellen; die Frage, die ich in meinem Hinterkopf verbannt hatte, beantwortete sich eben doch nicht von selbst.
Rube rief jeden Tag an und kam zweimal in der vereinbarten Woche vorbei. Er meldete sich jedes Mal zuerst an, um den Eindruck zu vermeiden, er kontrolliere mich; das war natürlich genau das, was er tat. Jedes Mal, wenn wir uns unterhielten, machte ich mir die Mühe, ihn unaufgefordert wissen zu lassen, dass ich meine Meinung nicht geändert hatte.
Am letzten Tag rief ich Dr. Danziger an. Seine Nummer stand im Telefonbuch, beim fünften Läuten antwortete er, gerade als ich – mit reinem Gewissen – auflegen wollte. Als wir miteinander sprachen, wünschte ich mir, ich hätte ein Läuten früher aufgehängt. Denn er war, wie es manchmal überraschend passiert, plötzlich alt geworden; ich war froh, ihn nicht sehen zu müssen. Seine Stimme zitterte, er klang müde und niedergeschlagen; mit einem Mal traf mich die Erkenntnis, dass er nicht mehr lange zu leben hatte. Ich erzählte ihm, worüber Esterhazy und Rube mit mir gesprochen hatten – er bestand darauf, und es war sein gutes Recht, alles zu erfahren. Er hörte zum ersten Mal davon; keiner hatte ihn darüber informiert. Er war so verstört, seine Stimme zitterte so stark, dass ich Angst hatte, er würde anfangen zu weinen; natürlich tat er das nicht. Ich hätte es wissen müssen; er war alt und würde bald sterben, aber er war kein Mann, der sich gehen ließ. Er war vielmehr wütend. »Halten Sie sie auf!«, schrie er. »Sie müssen sie sofort aufhalten! Versprechen Sie mir das, Si! Sagen Sie es.« Natürlich sagte ich ja, was sonst, und hörte mir selbst dabei zu und hoffte, dass meine Stimme aufrichtig klang.
Eine Woche nach meiner Rückkehr war ich wieder einmal im Dakota und trug die Kleidung, die mir nun viel vertrauter schien als die, die ich in meinem Apartment zurückgelassen hatte. Ich hatte die vergangene Nacht und den größten Teil des folgenden Tages dort zugebracht, nicht weil ich die Zeit brauchte, um mich in den notwendigen Geisteszustand zu versetzen, in Julias Zeit hinauszuschreiten. Sondern weil ich hier noch mehr für mich war als in meinem Apartment und ich mich auch viel freier fühlte, um über die wichtigste Entscheidung in meinem Leben nachzudenken, hier in diesem
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