Zeitspuren: Mit einem Vorwort von Wolfgang Jeschke - Meisterwerke der Science Fiction (German Edition)
entdeckte einen Anflug von Eigendünkel in meiner Stimme.
»Willst du niemals wieder zurück? Nur so … eine Art Besuch in deiner eigenen Zeit?«
»Nein.«
»Dessentwegen, was du getan hast!«
Wir hatten in den letzten fünf Jahren dieses Gespräch mindestens ein halbes Dutzend Mal geführt; ich wusste, dass sie bestärkt werden wollte, und ich nickte. »Am 6. Februar 1882, an ihrem achtzehnten Geburtstag: ich sehe sie in ihrem neuen grünen Kleid im Theaterfoyer vor mir. Gerade achtzehn geworden, und kurz davor, den Mann zu treffen, den sie heiraten würde.«
»Gib dir dafür keine Schuld, Si.«
»Oh, das tue ich nicht, wirklich nicht. Aber ich denke daran. Wie ich da stand und genau wusste, was passieren würde, und was ich zu tun hatte. Und dann ihn sah, wie er auf die Eingangstüren zuschritt. Der junge Otto Danziger, der das Foyer betrat, wo er ihr vorgestellt werden wollte: er sah sogar Dr. Danziger sehr ähnlich! Dann sehe ich mich selbst auf ihn zutreten, in der Hand eine Zigarre, und ihn um Feuer bitten. Hielt ihn mit voller Absicht auf. Bis ich sah, dass sie das Foyer verlassen hatte und nach oben ging. Sie haben sich niemals getroffen, so einfach war das. Sie haben sich niemals kennengelernt und niemals geheiratet, und Dr. Danziger wurde niemals geboren. Und ohne ihn — ein seltsamer Gedanke – konnte es natürlich auch niemals das Projekt geben.« Julia lag neben mir, hörte wie ein Kind einer ihm tausendmal erzählten Geschichte zu; ich lächelte und sagte: »Worüber ich aber gerne nachdenke, ist Rube Prien. Und Esterhazy. Die nun, in weiter Zukunft, ein ganz anderes Leben führen. Und niemals von einer – einer was?— einer anderen Zeitsequenz etwas erfahren werden, in der es ein Projekt gegeben hatte. Aber ich mochte Dr. Danziger, Julia. Und er vertraute mir. Was ich tat, war wie Mord. Deswegen will ich nicht in meine eigene Zeit zurück, denn weißt du, was ich als Erstes tun würde? Ich nähme ein Telefonbuch von New York und würde E. E. Danziger nachschlagen. Mit dem Wissen im Hinterkopf, dass es ihn nicht geben würde. Dass es ihn nicht geben werden kann. Weil ich in die Vergangenheit eingetreten bin … und die Zukunft verändert habe.«
Einer der Vorzüge des Lebens im neunzehnten Jahrhundert war das Fehlen der dauernden und skrupellosen Selbstreflexionen des zwanzigsten. Und nun – genug! Ich lächelte Julia zu, die mit großen Augen neben mir lag, und sagte: »Deswegen bleibe ich hier. Bei der Frau, die den Eindringling aus dem zwanzigsten Jahrhundert die Hintertreppe in der Pension ihrer Tante Ada hochgeführt hatte. Wobei ich ihre wundervollen Beine in diesen wirklich schönen, dicken, blau-weiß gestreiften Wollstrümpfen betrachten konnte.«
»Du hättest woanders hinschauen sollen.«
»Das tat ich. Hierhin.«
»Nun aber.«
»Und dorthin.«
»Si, das ist ein ernsthaftes Gespräch. Und es ist sehr spät. Das ist wirklich nicht die Zeit dafür.« Aber sie war es doch.
2
Die junge Frau sah von der Tastatur ihres Computers hoch, lächelte freundlich und wies mit einer Handbewegung den nächsten Patienten in das Sprechzimmer des Arztes. Er schien Ende dreißig zu sein, war von kleiner Statur und hatte eine Glatze; nur am Hinterkopf und über den Ohren war noch etwas rotblondes Haar vorhanden. Allerdings hatte er wuchtige Schultern und einen breiten Brustkorb. Während er den Raum durchmaß, erweckte er einen energischen, fast streitlustigen Eindruck.
Freundlich sagte der Doktor hinter seinem Schreibtisch: »Nehmen Sie bitte Platz«, und nickte zu einer kleinen Couch hinüber, die dem Schreibtisch gegenüberstand. »Bin in einer Sekunde für Sie da. Seh mir nur Ihre Unterlagen an.« Der Doktor war etwa fünfunddreißig, trug ein verblichenes grünes Tennishemd, sein Haar war hellbraun und dicht. Aber nicht gestylt, stellte der Patient anerkennend fest. Auch kein verdammter Alligator auf dem Hemd.
Er setzte sich und berührte kaum das Kissen in seinem Rücken; er saß sehr gerade, als lehne er die ihm angebotene Bequemlichkeit ab. Seine Hände müßig im Schoß, blickte er sich um, ohne sich seine Gefühle anmerken zu lassen. Mehr ein Wohnzimmer als eine Praxis, dachte er: kleine Brücken lagen teilweise übereinander, die ganze Wand hinter dem Schreibtisch bestand aus Bücherregalen, ein breites Fensterbrett, auf dem Fachzeitschriften lagen und gerahmte Fotografien mit Segelbooten. Holzläden verdunkelten den Raum und schlossen ihn von der Welt ab. Das gefiel ihm
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