Zeitspuren: Mit einem Vorwort von Wolfgang Jeschke - Meisterwerke der Science Fiction (German Edition)
Eine fürchterliche Wut. Plötzlich. Aus dem Nichts. Sie überströmte mich. Ich spürte, wie mein Gesicht rot wurde und der Kragen mir die Luft abschnürte. Eine schreckliche Wut, die ich nicht erklären konnte. Und ich sagte: ›Du Hurensohn. Oh, du Bastard. Du hast es getan, du hast es getan!‹ Eine Frau stand neben mir — an diesem Eingang ist immer ziemlich viel los –, und ich ging einfach die Stufen hinab und warf meine Tasse in einen Abfallkorb, die Tasse mit dem Kaffee, und haute schließlich ab. Ich musste mich aber noch mal umblicken, und wissen Sie« – er lächelte – »sie stand da noch immer und beachtete mich nicht einmal. Ich war für sie nur ein weiterer Verrückter in New York, der sie nichts anging. Aber ich war noch immer wütend. Ich ging schnell durch die Straßen, nach Norden, in eine Gegend, die ich nicht kannte. Und wenn ich ihn zu fassen bekommen hätte, hätte ich ihn nicht mehr losgelassen.«
»Wen zu fassen? Schnell!«
Der Patient schüttelte den Kopf. »Ich weiß es nicht. Ich weiß es einfach nicht. Aber ich wurde dieses Gefühl nicht los. Eine Zeit lang wurde es sogar noch schlimmer. Schließlich ließ es nach, aber ich kehrte nicht in die Bibliothek zurück. Nicht an diesem Tag. Zum ersten Mal seit Jahren ging ich früh nach Hause. Ich habe ein kleines Apartment im East Village; ich bin oft dort. Die Army bezahlt es. Eigentlich wohne ich in Washington. Mehr kann ich nicht berichten Ich weiß nicht, was zum Teufel los ist. Sie vielleicht?«
»Noch nicht.«
»Ich verstehe. Ich nehme an, Sie wollen, dass ich wiederkomme.«
»Jedenfalls eine gewisse Zeit lang.« Der Arzt nahm den Personalbogen vom Schreibtisch zur Hand. »Vielleicht sollten wir das erst vervollständigen. Sind Sie verheiratet?«
»Nein.«
»Waren Sie es?«
»Nein.«
»Gut.« Er machte die entsprechenden Kreuze. »Und Sie sind wie alt: siebenunddreißig, achtunddreißig?«
»Neununddreißig, und wenn Sie wirklich fragen wollen, warum ich fast vierzig bin und niemals geheiratet habe — die Antwort ist ganz einfach: Ich hatte keine Zeit. Ich mag Frauen ziemlich. Sexuell und um ihrer selbst willen. Frauen sind netter als Männer, sie sind die besseren Menschen. Es gibt Frauen, die meine Freunde sind, und Frauen bleiben gewöhnlich auch Freunde. Ich habe viel mit ihnen zu tun und erwarte, dass das auch so bleibt. Ich hoffe, das genügt. Aber was ich noch lieber mag – mehr als Frauen, Männer, Katzen oder Hunde – das ist die Arbeit. Leben ist Arbeit, und Arbeit ist Leben, das ist meine Meinung. Deswegen leben wir; die Fortpflanzung hält alles nur am Laufen. Ich habe meinen Spaß, Vergnügen außerhalb der Arbeit. Ich gehe ins Kino, genehmige mir einen Drink, treffe Freunde, Männer und Frauen. Ich tue, was alle anderen auch tun. Aber das alles ist nur Freizeit und Erholung. Was mir wirklich etwas bedeutet, ist die Arbeit. Manchmal sechzehn Stunden am Tag, und das Tag für Tag, wenn es nötig ist. Zwanzig Stunden, falls es sein muss. Da ist es unsinnig, verheiratet zu sein.«
»Gut. Sie haben mich zwar nicht danach gefragt, und Sie sind auch deswegen nicht hier. Aber es werden andere Jahre kommen, das wissen Sie, Jahre, die anders verlaufen werden.«
»Ich weiß. Und ich werde alt und einsam sein. Aber diese Jahre hier zählen. Und ich verbringe sie so, wie es mir richtig erscheint. Nichts zählt mehr. Ich habe Dinge zu erledigen, und ich werde sie erledigen. Ich bin ein skrupelloser Hurensohn, Doc, ich scherze nicht. Skrupellos auch mir selbst gegenüber.«
»Ja. Ich verstehe.« Er stand auf, auch sein Patient erhob sich, und der Doktor – erfahren darin, seine Sitzungen zu beenden –, wies ihm den Weg zur Tür; der andere folgte ihm, er öffnete die Tür und wartete dann auf die beinahe unvermeidliche letzte Frage oder gelegentlich auch bis zum Schluss zurückgehaltene Offenbarung.
Dieses Mal war es eine Frage. »Haben Sie eine Vermutung?«
»Nein. Sie wollen doch sicher nicht, dass ich rate.«
»Das ist wahr, Doktor. Sie haben nichts dagegen, wenn ich Sie Doktor nenne?«
»Ich heiße Paul. Nennen Sie mich Paul.«
»Okay, mein Name ist Prien, Rube Prien. Nennen Sie mich Rube.«
»Okay, Rube. Machen Sie mit meiner Sekretärin einen neuen Termin aus, wenn Sie gehen. Bis bald.«
Aber er täuschte sich. Rube Prien kam nie mehr wieder.
3
Vier Tage später, an einem Freitag, war er unterwegs zu seinem Termin; er ging auf der 5th Avenue nach Norden, zur Praxis des Arztes an der 62nd Street.
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