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Zeitspuren: Mit einem Vorwort von Wolfgang Jeschke - Meisterwerke der Science Fiction (German Edition)

Zeitspuren: Mit einem Vorwort von Wolfgang Jeschke - Meisterwerke der Science Fiction (German Edition)

Titel: Zeitspuren: Mit einem Vorwort von Wolfgang Jeschke - Meisterwerke der Science Fiction (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jack Finney
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kugelköpfiger, bemühter Europäer, der noch fast kein Englisch sprach, breitete auf dem Ladentisch eine Auswahl an Gürteln aus; einige waren aus Leder, andere aus ganz unterschiedlichen Materialien , unter anderem Seide. Sie wurden von vielen gekauft; kaum jemand begab sich ohne einen solchen Gürtel auf eine Reise. Ich nahm einen aus gutem, leichtem Segeltuch.
    Das Mittagessen nahm ich stehend in einem Saloon östlich des Broadway ein und spülte es mit einem halben Glas Bier hinunter; den Rest ließ ich stehen – es hatte zu viel Schaum, da das Fass frisch angezapft worden war. Eineinhalb Block weiter besuchte ich meine Bank, wo ich fast die Hälfte unserer Ersparnisse abhob, die ich zusammen mit meinem Vorschuss – wie viele Reisende auch – in Gold mitnahm, um Platz zu sparen. Dann zurück ins Büro, um den Tag zu Ende zu bringen; ich zeichnete nach einer Fotografie, färbte sie ein – schon wieder ein Zugunglück, diesmal in der Nähe von Philadelphia.

7
    Zu Hause in unserem Schlafzimmer, kurz vor Mitternacht, zog ich mich an. Julia und ich verständigten uns flüsternd. Kein Mantel, sondern ein Anzug aus Wolle, beschlossen wir; falls ich einen Mantel brauchte, würde ich einen modernen kaufen. Mein Anzug war in Ordnung, dachte ich: einreihig geknöpft, mit schmalem Revers, aber sonst akzeptabel. Ein Knopf zu viel, aber ich konnte die Jacke offen lassen. Winterunterwäsche und Stiefel. Ich besaß eine Melone, einen Seidenzylinder, einen Sommerstrohhut und meine Winterkappe ohne Krempe, doch wir entschieden: keinen Hut. Mein Haar war glatt, fast schwarz, ziemlich lang und dicht – bis auf einige dünnere Stellen, die, wie Julia sagte, kaum wahrnehmbar waren. Die Krawatten waren alle unbrauchbar, aber Julia holte einen Wollschal aus meinem Schrank, den ich unter die Jacke schlug, über der Brust verschränkte und so das Fehlen der Krawatte kaschierte. Ich überprüfte den Geldgürtel, war mir zwar sicher, dass ich ihn trug, überprüfte ihn aber dennoch.
    Wir hatten neben dem Fenster einen großen Spiegel, zu dem ich nun hinüberging. Julia zündete das Gaslicht eines Wandleuchters daneben an, und wir musterten kritisch meine Ausstaffierung. Ich trug in diesen Tagen einen kurz geschnittenen Vollbart. Nicht unbedingt schön, dachte ich, aber auch nicht sonderlich schrecklich. Ich versuchte mir vorzustellen, wie ich durch die Straßen des späten zwanzigsten Jahrhunderts ging. »Nun, was meinst du?«, fragte Julia. »Auf der Länge eines einzigen Blocks des Manhattan aus dem zwanzigsten Jahrhundert«, sagte ich, »triffst du weit mehr Leute, die noch komischer aussehen.« Julia schüttelte den Kopf bei dem Gedanken an das New York, von dem ich sprach.
    Die große Standuhr im Eingang zeigte elf Uhr vierzig, das Flurlicht war gedämpft, wie immer nachts. Julia sagte ruhig: »Und mach dir keine Sorgen um uns; wir passen auf uns auf.« Ich küsste sie zum Abschied, wandte mich ab, kehrte dann aber noch einmal zurück und umarmte und küsste sie inniger. Plötzlich hatte ich das Gefühl, als begebe ich mich auf eine lange und gefährliche Reise. Was sicher stimmte, denn mein Ziel lag in weiter Entfernung.
    Ich legte die Hand auf die Türklinke. »Warte«, sagte Julia und rannte die wenigen Schritte zu dem großen Flurschrank, suchte etwas in der Tasche ihres Wintermantels, kam dann zu mir zurück, lächelte und reichte mir ein kupfernes Eincentstück. Im ersten Augenblick glaubte ich, sie wollte es mir als Talisman mitgeben, dann erinnerte ich mich. »Danke, ich hatte es vergessen.« Und dann verließ ich das Haus und trat hinaus in die stille Nacht.
    Es war nicht allzu weit; ich ging durch die fahl beleuchtete Nacht, durch Straßen des neunzehnten Jahrhunderts, meine Stiefelabsätze klangen zu laut auf den Gehwegen. Einen fast unendlichen Straßenblock entlang, vorbei an massiven braunen Sandsteinhäusern, die auf beiden Seiten der Straße gleich aussahen. Hin und wieder blickte ich nach oben zu einem erleuchteten Fenster und dachte an die Leute, die in diesen Straßen lebten, jetzt, da diese Häuser noch neu waren.
    Ich bog um eine Ecke, kam an einem beschädigten Wagen vorbei, der an der Bordsteinkante geparkt war. Das einspännige Pferdegestänge war hochgestellt und lehnte am Kutschbock. In der Mitte des Blocks, unter einer Straßenlaterne, hatten Kinder gespielt; auf dem gepflasterten Gehweg waren Kreidestriche und Schriftzüge zu sehen. Sie lauteten anders als zu der Zeit, die ich nun bald zu

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