Zeitspuren: Mit einem Vorwort von Wolfgang Jeschke - Meisterwerke der Science Fiction (German Edition)
verstand auch warum; er saß hier nun fest und würde erst einmal keinen Kunden finden, bis er sich wieder freigearbeitet hatte. Ich holte also mein Kleingeld heraus, fand noch ein Zehncentstück und reichte es ihm; nun bedankte er sich. Ich hatte noch einige Blocks zu gehen, am Park vorbei zum großen alten Postamt und zum Park Place westlich des Broadway.
Während ich in die morgendlich eilige Menge eintauchte, konnte ich nicht mehr leugnen, was ich im Laufe des letzten Jahres nur sehr widerstrebend wahrgenommen hatte: dass der Broadway hier unten sehr hässlich war. Es war mir nicht bewusst geworden, als ich ihn zum ersten Mal in dieser Zeit sah.
Damals erregte alles meine Bewunderung: jede Ansicht, jede Person, die ich sah, jedes Geräusch, das ich hörte. Ich schritt über den Lower Broadway in einer Art ekstatischer Trance angesichts der Tatsache, tatsächlich hier zu sein. Sehr schnell – und das passierte als Erstes – sahen die Häuser, die an der Straße standen, nicht mehr alt aus. Aus meiner eigenen Zeit im zwanzigsten Jahrhundert erinnerte ich mich an ein oder zwei von ihnen – sie erschienen mir als wahrhaft alt, sie passten nicht in die Moderne. Aber hier sah ich, wie einige von ihnen gebaut wurden, sah die irischen Bauarbeiter, die morgens die Leitern bestiegen, während ich vorbeiging, sah, wie die neuen Backsteingebäude in die Höhe wuchsen und schließlich fünf bis sechs Stockwerke erreichten und nach nassem Mörtel rochen. Viele von ihnen waren jetzt erst fünf bis zehn Jahre alt. Nun passten sie in die Zeit, sahen modern aus und waren es auch. Und sie waren hässlich, auch das sah ich nun, waren Wand an Wand geklebt, zu hoch für ihre Breite auf den alten engen Grundstücken, auf denen sie errichtet worden waren. Ihre unregelmäßige Höhe glich einer lädierten Zahnreihe. Auch die Straße selbst war zu schmal und wurde nun durch die neuen Tramgleise noch schmäler. Eines Morgens im letzten Frühjahr war ich auf das unvorstellbare Gewirr eines Staus gestoßen und hatte gesehen, wie ein wütender Kutscher plötzlich aufstand und einem anderen Kutscher die Peitsche über die Wange zog, der daraufhin auf seinem Kutschbock ohnmächtig geworden war.
Die Straße war schlecht gepflastert, man munkelte von Korruption in der Stadtverwaltung. Unzählige Schlaglöcher. Das endlose, ewige Rattern der eisenbeschlagenen Räder auf den unebenen Steinen konnte einen in den Wahnsinn treiben. Und immer, immer war der Broadway staubig oder schlammig oder beides zur selben Zeit. Voller Pferdedung, der trocknete und zu grobkörnigem Staub wurde, sodass man an windigen Tagen vorsichtig einatmen und die Augen zusammenkneifen musste. Die Gehwege waren ein Hindernis-Parcours aus den Holzmasten rivalisierender Telegrafengesellschaften. Die Querbalken auf den Masten waren schwer mit Leitungsdrähten behängt. Große, schwarz-weiße Reklameschilder bedeckten fast jede freie Mauer, große Schilder hingen über den Gehwegen. Nun sah ich den Broadway mit offenen Augen so, wie er wirklich war: eine trübe, zweckmäßige Kommerzstraße, die nicht einmal zu verschleiern versuchte, was sie war – hässlich. Und dennoch mochte ich ihn. Ich liebte ihn.
Ich ging den Broadway entlang, auf den Gehwegen herrschte ein großes Gedränge von Männern, die auf dem Weg zur Arbeit waren – kaum Frauen –, und ich überlegte oder versuchte es wenigstens: Was kann ich tun, was soll ich tun, was will ich tun? Nun, ich wusste, was ich tun wollte. Hierbleiben, hier, tief im neunzehnten Jahrhundert. Aber irgendwo weit in der Zukunft setzte das Projekt seine Arbeit fort, da ich nicht in der Lage gewesen war, das zu verhindern. War es deshalb nicht meine Pflicht, nachzusehen, was Rube und Esterhazy taten? Meine Gedanken drehten sich im Kreis, die Frage, erkannte ich, beantwortete sich nicht von selbst. Und dann erkannte ich auch, dass ich unbedingt bald zu einer Entscheidung kommen musste. Sollte ich, oder sollte ich nicht?
Wie vom Himmel gesandt stand plötzlich vor mir auf dem Park Place nahe der Ecke zum Broadway die Bird Lady. Man begegnete ihr gelegentlich in der Stadt, an geschäftigen Orten oder Straßenecken.
Hier eine Zeichnung der Bird Lady, die einige Monaten zuvor von Pruett Share angefertigt worden war, einem unserer Mitarbeiter bei Leslie’s. Für fünf Cents ließ sie einen ihrer Kanarienvögel mit dem Schnabel aus einer offenen Kiste einen kleinen Umschlag mit einem Zettel herausholen. Darauf stand – nicht
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