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Zeitspuren: Mit einem Vorwort von Wolfgang Jeschke - Meisterwerke der Science Fiction (German Edition)

Zeitspuren: Mit einem Vorwort von Wolfgang Jeschke - Meisterwerke der Science Fiction (German Edition)

Titel: Zeitspuren: Mit einem Vorwort von Wolfgang Jeschke - Meisterwerke der Science Fiction (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jack Finney
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erreichen versuchte. Einige verkündeten einfach, dass ein Vorname einen anderen Vornamen liebe, der schockierendste von ihnen verriet, dass Mildred stinkt. Am Ende des Straßenblocks kam mir auf der anderen Straßenseite ein Mann entgegen. Ich sah, dass er sich beim Gehen weit vorgebeugt hatte, etwas Schweres war auf seinen Rücken geschnallt: ein Schleifstein in einer Holzhalterung mit einem Pedal. Er war ein Messer- und Scherenschleifer; warum er so spät noch unterwegs war, war mir ein Rätsel.
    Dann, nachdem ich um die Ecke gebogen war, sah ich sie vor mir in den Himmel aufragen, von einem nicht ganz vollen Mond beschienen. Einen halben Block weiter kam ich von dem gepflasterten Gehweg auf Holzplanken – ein Fußweg, der stetig anstieg. Ich dachte, das kleine Holzhäuschen vor mir wäre schon geschlossen, aber es war noch immer offen; wahrscheinlich würde es erst in wenigen Minuten, um Mitternacht, geschlossen werden. In dem Häuschen sah ich, als ich vor dem kleinen vergitterten Fenster stehen blieb, einen Mann sitzen, der eine Melone aufhatte und eine Pfeife rauchte. Ich schob das Eincentstück, die Brückenmaut, an die Julia sich erinnert hatte, über die vom ständigen Gebrauch abgegriffene hölzerne Theke. Der Mann sagte: »Danke, Sir.« Etwa hundert Meter weiter, es ging noch immer aufwärts, ließ ich die nun tief unter mir liegende Uferlinie hinter mir und ging den prächtigen Bogen der neuen East River Bridge hinauf.
    Weit vor mir stand der riesige, mit gotischen Bögen versehene Steinturm, der Brooklyn Tower, der sich schwarz gegen den etwas helleren Himmel abhob. Neben mir zogen sich die klar zu erkennenden Trägerkabel hin, entfalteten sich zu einem fächerförmigen Muster. Streifen von Mondlicht lagen schimmernd auf ihnen. Ich ging dicht am Geländer entlang, meine Schritte dröhnten auf den Holzplanken, und tief unter mir konnte ich den Fluss sehen, eine von tanzenden gelben Lichtbündeln besprenkelte schwarze Fläche. Das Wasser selbst konnte ich nicht erkennen, aber ich stellte es mir vor – der East River, immer derselbe, trübe und dreckig, grau, schwerfällig und träge. In der Ferne, im Süden, konnte ich einen schwach erleuchteten schwarzen Umriss ausmachen: einen Schlepper oder Lastkahn.
    Fast in der Mitte der endlos langen Brücke, dort, wo das dicke Kabel beinahe seinen tiefsten Punkt erreicht, setzte ich mich auf die Kante einer Bank und sah durch das Geländer auf den Fluss hinunter. Während des vergangenen Tages hatten Fußgänger ebenso wie Pferdebusse und Pferdekutschen ohne Unterlass die Brücke überquert, jeder hatte seine Eincentmaut bezahlt. Hier ist eine Zeichnung, die ich einige Monate zuvor für die Zeitung gemacht hatte; und auch wenn damals weniger Schiffe da waren, so ist es doch genau der Ort, an dem ich mich jetzt befand. Während ich über den Fluss blickte, dachte ich an andere Zeiten, an Nächte und Abende, an denen ich hier war, um über genau diesen Fluss zu schauen, dieselben hohen Brückentürme, dieselben Stahltrossen neben mir. Dieser Ort, und alles, was ich in der unmittelbaren Umgebung betrachtete, existierte jetzt … und ebenso in den folgenden Jahrzehnten. Ein Durchgangstor, der Teil hatte an beiden Zeiten, der zu jeder Zeit gehörte und existierte. Also begann ich hier auf der Bank, in stiller Dunkelheit, an die Zeit vor mir zu denken, versuchte mich zu erinnern, versuchte, das Gefühl und Gespür für die Zeit in mir wachzurufen, in die ich mich begeben wollte.

    Es war einfacher, als sich eine Vergangenheit vorzustellen, die ich niemals gesehen hatte – so wie ich es das erste Mal getan hatte, als ich versuchte, das neunzehnte Jahrhundert zu erreichen. Ich kannte die Zukunft, in die ich wollte. Hatte sie gesehen und war Teil von ihr gewesen; ich wusste, dass sie da war. Von der Straße neben und unter dem Gehweg hörte ich das stetig näher kommende Klappern von Hufen, sah dann einen geschlossenen Lieferwagen näher kommen, die Lichter seiner schaukelnden Laternen, und beobachtete, wie die Plane unter meinem Blick an mir vorüberzog, hörte den Wagen rattern und die Hufschläge leiser werden. Dann saß ich da, sah nichts mehr, sondern starrte nur noch auf die Planken zu meinen Füßen und ließ vor meinem geistigen Auge Szenen und Bilder, Erinnerungen an das New York des späten zwanzigsten Jahrhunderts entstehen, um das Gefühl für meine eigene Zeit wieder zu erlangen. Ich zwang es nicht herbei, sondern ließ es auf mich zukommen. Und sah mich

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