Zeitspuren: Mit einem Vorwort von Wolfgang Jeschke - Meisterwerke der Science Fiction (German Edition)
Händen die Ohren zu; ich musste lächeln. »Denk dir nur, er lebt, in diesem Augenblick. Er ist noch ein kleines Kind, soviel ich weiß. Möglicherweise in Willys Alter. Und spielt vielleicht gerade jetzt irgendwo in Deutschland und hat bereits Gedanken, die über meinen Horizont hinausgehen. Vielleicht schaut er sich ein Buch an und sagt ›Haus‹.«
»Möchtest du noch eine Waffel?«
»Ich muss los.« Ich schob den Stuhl zurück, Julia erhob sich, um Willy auf den Arm zu nehmen und mit ihm zum Fenster zu gehen, wo er mir zum Abschied immer zuwinkte – was für ihn und mich äußerst wichtig war.
An diesem Morgen ging ich nicht zu Fuß zur Arbeit; als ich vor das Haus trat, sah ich auf der anderen Seite des Parks eine Droschke warten und beschloss, sie zu nehmen. Ich drehte mich noch einmal um und winkte Willy zu, er lächelte mich durch das Fenster hindurch an und wedelte mit der Hand. Dann ging ich zur Droschke hinüber. Ich trug einen Hut und meinen braunen Anzug.
Zum Droschkenkutscher sagte ich »Leslie’s« und wartete gespannt, ob er wusste, wo es war. Er kannte es, ich stieg ein, während er vom Bock herabkletterte und den Pferden den Lederbeutel mit dem Futter abnahm. »Nehmen Sie den Broadway«, rief ich ihm zu und setzte mich.
Ich mochte Droschken. Sie waren nicht unbedingt bequem; besaßen große, sehr harte Blattfedern, und man wurde immer ein wenig durchgeschüttelt, dem Rhythmus der trottenden Pferde entsprechend. Manche mochten das gar nicht, mich aber störte es kaum. Meistens waren sie schmutzig und rochen sogar ein wenig. Julia und ich stiegen einmal nach einem Theaterbesuch in eine solche Kutsche ein und flohen sofort wieder. Diese hier aber war in Ordnung.
Die Sonne war nicht zu sehen, kein blauer Himmel, nur eine gleichmäßige, gräulich weiße Dunst- und Wolkenschicht. Seit einer Woche war es nun schon so; nur kalt war es nicht. Auf der 20th Street bogen wir nach Westen, und ich lehnte mich zurück. Ich hatte Angst, wieder in meine Zeit zurückzukehren. Angst davor, was ich beim Projekt vorfinden könnte, Angst vor den schrecklichen Dingen, die ich nicht aufhalten konnte. Bleib hier, bleib hier, sagte mir meine innere Stimme; was du nicht weißt, kann dir nichts anhaben.
Die 4th Avenue hinunter … am Union Square vorbei … auf der 14th nach Westen … dann auf den Broadway. Nicht die schnellste Route an einem Wochentag morgens, aber ich brauchte Zeit für mich. Wir schaukelten weiter dem Zentrum der Stadt entgegen, der Broadway füllte sich in der morgendlichen Geschäftigkeit mit immer mehr Wagen, bis es schließlich, gegenüber dem City Hall Park, fast zu viele wurden.
Das ist der Ort, an dem wir uns befanden, nur war der Verkehr noch schlimmer, denn die neuen Pferdebahnen – die nun zusätzlich zu den Omnibussen auf dem Broadway eingesetzt wurden – saßen zu dritt oder zu viert hintereinander fest. Geduldig warteten die Pferde und vertrieben mit ihren Schwänzen die Fliegen, die Fahrer klingelten mit ihren Glocken, aufgebracht über den stehenden Verkehr, der ihnen den Weg versperrte.
Das passierte nun oft, denn die Tramwagen, die an Gleise gebunden waren, konnten nicht wie die kleinen Busse ausweichen. Die alte Straße war zu schmal geworden: Ich hatte schon Busse erlebt, die einfach den Broadway verließen, um dem Verkehr zu entkommen, und einen Block weiter wieder zum Broadway zurückzukehren.
Als ich mich aus der Droschke lehnte, sah ich vor uns einen mit leeren Fässern beladenen Lastwagen, der versucht hatte, eine Reihe stehender Tramwagen zu umfahren und dabei auf einen leichten Lieferwagen aufgefahren war, der dasselbe von der anderen Seite her versucht hatte. Die beiden Kutscher hatten sich von ihren Sitzen erhoben und taten das, was Kutscher in solchen Fällen immer tun — sie schrien und schlugen drohend mit ihren Peitschen durch die Luft. Es ist nicht leicht, mit einem Lieferwagen zurückzustoßen, und keiner von beiden wollte es. Ein ziemliches Chaos, das durch die Tramwagen noch vergrößert wurde. Am Anfang hatten sie mir gefallen; doch jetzt empfand ich sie eher als eine Behinderung für den Broadway.
Hier konnte ich jedenfalls nicht einfach sitzen bleiben und zugucken: Ich musste in wenigen Minuten bei der Arbeit sein; also stieß ich den Schlag auf und kletterte hinaus. Ich kannte den Fahrpreis vom Gramercy Park zu Leslie’s und gab dem Fahrer den vollen Betrag plus zehn Cent Trinkgeld, was angemessen war. Er dankte mir nicht, und ich
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