Zeitspuren: Mit einem Vorwort von Wolfgang Jeschke - Meisterwerke der Science Fiction (German Edition)
eines Morgens durch den Regen zur Bushaltestelle laufen, um zur Werbeagentur zu kommen, bei der ich arbeitete. Das rief mir mein Zeichenbrett in Erinnerung und die mir vertraute Aussicht auf die 54th Street aus dem Fenster neben meinem Platz. Es führte zu weiteren Gedanken an die Tage und die Menschen meiner Zeit. Zu meinem kleinen Apartment an der Lexington Avenue; klein, laut, zu wenig Tageslicht – ich erinnerte mich nur zu gut. Zu dem kleinen Restaurant gegenüber, wo ich gewöhnlich das Frühstück zu mir nahm. Der Waschsalon. Kino …
Sie war wieder da, meine eigene Zeit, das Gefühl dafür; ich hatte sie nicht vergessen. Ich begann mit der beinahe mühelosen Technik, die ich so gut beherrschte.
Vielen Menschen ist Selbsthypnose nicht möglich, anderen dagegen fällt sie nicht schwer; sie kann für viele Zwecke sehr wirksam eingesetzt werden. Und ich war darin ziemlich erfahren. Ich saß hier auf meiner Bank, war völlig entspannt, starrte mit weit geöffneten Augen hinaus auf den Fluss, dachte an nichts Bestimmtes, und benutzte meine Fähigkeit, um mein Leben hier im neunzehnten Jahrhundert … werde still. Werde ruhig, zieh dich zusammen. Werde ganz klein und dann reglos. Und schließlich spürte ich diese unbeschreibbare Strömung, den wohlvertrauten langen Moment des Verweilens zwischen den beiden Zeiten.
Ich erhob mich, drehte mich in Richtung Manhattan, die Augen nicht ganz geschlossen, aber auf die Holzplanken gerichtet. Noch bevor ich meine Augen hob, konnte ich vor mir die sich hoch auftürmende, unvorstellbar glitzernde Silhouette New Yorks aus dem zwanzigsten Jahrhundert sehen. Dann hob ich rasch den Kopf, zwinkerte mit den Augen, und stand völlig entgeistert und bestürzt da.
Ich war gescheitert. Dort draußen vor mir im Mondschein lag die alte Stadt, die ich heute Nacht verlassen hatte, dunkel und schwarz, bis auf die wenigen flackernden Lichtpunkte der Gas- oder Petroleumlampen, nur die Kirchtürme waren hoch und hoben sich deutlich gegen den gelblichen Himmel ab. Über den niedrigen Dächern, hinter der gesamten Breite der Insel, sah ich diesen Himmel im Wasser des Hudson gespiegelt. Und ich spürte – ein befreiendes Gefühl! Ich konnte es nicht mehr tun. Ich hatte die Fähigkeit dazu verloren! Und durfte zurück in diese Stadt, zu Julia, Willy, Rover, zurück an den Ort und zu dem Leben, das ich liebte und das ich nie mehr verlassen wollte.
Ich tat es nicht. Denn ich wusste, wusste genau, was ich getan hatte. Wusste, dass ich meinen eigenen Versuch sabotiert hatte, indem ich an die trübseligsten Aspekte meines alten Lebens gedacht hatte, an Dinge, die ich nicht mochte, zu denen ich nicht zurückkehren wollte. Da saß ich nun, beobachtete mich selbst und widersetzte mich dieser Zeit; gab nur vor, mich in sie hineinzuversetzen. Ich war willentlich gescheitert, weil ich nicht gehen wollte, weil ich Angst hatte. Vor was … ich hatte keine Ahnung. Vor dem, was mich im zwanzigsten Jahrhundert erwarten würde. Vor dem Projekt.
Aber ich konnte nun mit diesem Wissen nicht einfach nach Hause gehen. Ich trat an das Brückengeländer, lehnte mich bequem darauf, verschränkte die Hände und starrte auf den schwarzen Fluss. Jetzt begann ich Erinnerungen zuzulassen und ließ sie lebendig werden – nicht das kleine Apartment oder den Job, den ich nicht gemocht hatte, die einsamen Zeiten, sondern die Erinnerungen, die ich vorher unterdrückt hatte.
Sie kamen wie von alleine, erschienen einfach, als betrachtete ich einen Film. Ich sah mich mit drei Freunden auf der großen breiten Treppe des – ja, des Metropolitan Museums an der 5th Avenue sitzen. Sah das riesige blau-weiße Banner, das fünfzehn Meter über uns an der Fassade hing. Wir saßen darunter und warteten, dass das Museum öffnete. Redeten über irgendwelche Nichtigkeiten, machten Witze, hatten keine Eile und genossen die Sonne und diesen Tag.
Und – nun, natürlich, das Village. Einfach dort in einer lauen Nacht herumgehen, mit – Grace Wunderlich? Ja, genau: wir beide schlenderten ziellos umher, ein Paar in der langsam dahinströmenden Menge, die in die offenen Lokale hinein- und hinauszieht – in die Bars, Kunstläden, Cafés — die Luft war erfüllt mit lebhaftem Stimmengewirr.
Dann eine Überraschung: ich alleine auf dem Gehweg der 2nd Avenue, mittags, es war warm und feucht, dicht gedrängte Menschenmassen. Dennoch schritt ich schnell durch diese Menge, wie ein Fisch, der sich durch Seegras schlängelt, meine
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