Zeitspuren: Mit einem Vorwort von Wolfgang Jeschke - Meisterwerke der Science Fiction (German Edition)
Menschen, Frauen, Männer und ein Kind; alles vollblütige Crow-Indianer. Kommen Sie, wir gehen weiter.«
In unseren Filzstiefeln, in denen wir uns fast geräuschlos über die schmalen Gitterroste bewegten, überquerten wir nun eine weitere Mauer. Wir hielten hoch über einer dreieckigen Anlage inne und standen genau über seiner kürzesten Seite, dem am weitesten entfernten Punkt gegenüber. Ein weißes Steingebäude erhob sich unter uns bis wenige Zentimeter zu unseren Füßen. Auch dieser Bau war nicht das, was seine Vorderfront und seine einzige Seitenwand verhießen; er bestand lediglich aus zwei Wänden, die an ihrer Rückseite durch ein Eisengerüst zusammengehalten wurden. Vor den beiden Mauern lag ein mit Natursteinplatten gepflasterter Weg; in die Zwischenräume dieser Platten pflanzten vier Männer in Overalls winzige Rasenstücke und kleine Grasbüschel mit Erde, die sie Körben entnahmen. Der Weg mündete in einen kleinen Abhang, der zu einem wirklichen Fluss zu führen schien. Wasser floss dort, braun, trüb, bis zur Spitze des Geländes.
Irgendwie kam mir dieses Pseudobauwerk aus weißem Stein bekannt vor. Ich ging weiter, um einen besseren Blick auf die Vorderfront zu haben. Die Seitenwand, an der ich mich entlangbewegte, war mit Strebepfeilern abgestützt, und dann sah ich, dass sich die Frontseite zu zwei quadratischen Türmen erhob. Aus den Turmwänden wuchsen Steinfiguren hervor, eine davon war so nah, dass ich hinuntergreifen und sie hätte berühren können. Die Figuren stellten geflügelte Ungeheuer dar; die mit Strebepfeilern abgestützte Seitenwand und die Zwillingstürme gehörten zu einer Kathedrale. Es war Notre Dame von Paris; sie war mir von Bildern und aus vielen Filmen sehr vertraut.
Rube, der mich beobachtet hatte, sah, dass ich sie erkannt hatte, und deutete nun auf einen Punkt hinter dem Fluss. Ich sah unbefestigte Straßen, die sich in der Ferne verloren; daneben ein paar wenige niedrige Holz- oder Steinhäuser. Der Großteil der Landschaft bestand aus Feldern. »Das mittelalterliche Paris im Frühjahr 1451.« Rube lächelte. »Soll es zumindest einmal werden, falls wir dieses verdammte Ding jemals fertig bekommen.« Wieder wies sein Zeigefinger über den Fluss, und ich erblickte einen Mann in olivgrünen Leinenhosen und blauem Arbeitshemd, das voller Farbe war – ein Riese, der vor Häusern und Bäumen stand, die ihm kaum bis zu den Knien reichten. Auf seinem linken Unterarm lag eine Palette, und er malte sorgfältig den Wald aus, der mit Kohle auf die Arealmauer hinter der braunen, langsam fließenden Seine skizziert war. »Noch verdammt viel zu tun hier«, sagte Rube. »Jeder Stein der Kathedrale muss mit verschiedenen Säuren künstlich zum Altern gebracht werden; schließlich war sie 1451 schon mehrere Jahrhunderte alt. In gewisser Weise ist das unser ambitioniertestes Projekt, und ich vermute, dass noch nicht einmal Danziger selbst davon überzeugt ist, dass es jemals funktioniert. Genug geschaut? Dann gehen wir weiter.«
Ohne zu verweilen überquerten wir ein leeres Gebiet von fast rechteckigem Grundriss. Eine der Seiten war etwas breiter als die andere. Weit unter uns markierten zwei Männer auf Händen und Knien das Gebiet mit Klebeband und farbigen Kreiden. »Wenn ich mich recht erinnere«, sagte Rube, »dann soll das ein Feldhospital der AEF in der Nähe von Vimy werden, Frankreich 1918.«
Wir sahen auf eine schneebedeckte Farm in North Dakota hinunter; es war mitten im Winter 1924. Die Luft war empfindlich kalt. Wir standen über einer Straßenkreuzung in Denver im Jahre 1901; sie war mit Kopfsteinen gepflastert und hatte Straßenbahnschienen. In einem kleinen Lebensmittelladen mit zerfetzter Markise füllten zwei Männer in Overalls Waren auf. Rube, der an der Reling lehnte, murmelte: »Nach über siebzig Jahre alten Fotografien rekonstruiert, darunter eine wunderbar klare stereoskopische Ansicht. Unter Zuhilfenahme von wer weiß wie vielen neuen Messungen vor Ort. Wir sind noch nicht fertig. Sie füllen die Waren auf, alles absolut authentisch für jene Zeit. Und wenn es vollendet ist, wird es genauso aussehen, wie es damals war.« Er schaute auf seine Uhr. »Es gibt noch einige andere, die interessant sind, aber wir sind jetzt mit Danziger verabredet.« Wir machten kehrt und gingen zurück. »Unser New Yorker Areal braucht nicht dupliziert zu werden; wir werden uns das nach dem Mittagessen ansehen. Sind Sie hungrig? Verwirrt? Müde und überfordert?«
Ich
Weitere Kostenlose Bücher