Zeitspuren: Mit einem Vorwort von Wolfgang Jeschke - Meisterwerke der Science Fiction (German Edition)
Jahr?«
Ich sagte es ihm; ich lächelte nun ein wenig.
»Woher wissen Sie das?«
Ich wartete darauf, dass sich von selbst eine Antwort in meinem Gehirn bildete und starrte dabei über den Tisch hinweg in Danzigers entschlossenes Gesicht. Dann zuckte ich mit den Schultern. »Ich weiß nicht, was Sie hören wollen.«
»Dann werde ich für Sie antworten. Sie kennen das Jahr, den Monat, den Tag aus buchstäblich Millionen von Gründen: weil die Decke, unter der Sie heute aufgewacht sind, zumindest zum Teil synthetisch ist; weil in Ihrem Apartment sich vielleicht ein Kasten befindet mit einem Schalter; stellen Sie den Schalter an, erscheinen auf einem Glasbildschirm die Gesichter von lebendigen Menschen, die Ihnen Unsinn erzählen. Weil rote und grüne Lichter anzeigen, wann Sie auf Ihrem Weg heute Morgen die Straße überqueren sollten; und weil die Sohlen unter Ihren Schuhen aus Kunststoff sind, der länger hält als Leder.
Weil das Feuerwehrauto, das an Ihnen vorbeifuhr, einen Heulton hatte und nicht wie eine Sirene klang; weil die Teenager, die Sie sahen, so gekleidet waren, wie sie waren; und weil der Schwarze, an dem Sie vorbeigingen, Sie misstrauisch beäugte, genau so wie Sie ihn, und jeder von Ihnen versuchte, es zu verbergen. Weil die Titelseite der Times an diesem Morgen genauso aussah, wie sie noch nie ausgesehen hat und auch niemals mehr aussehen wird. Und weil Sie mit Millionen und Abermillionen solcher Fakten jeden Tag konfrontiert werden.
Die meisten von ihnen gibt es nur in diesem Jahrhundert, viele von ihnen nur in der zweiten Hälfte. Einige nur in diesem Jahrzehnt, andere nur in diesem Jahr, wieder andere nur diesen Monat, und ganz wenige an diesem bestimmten Tag. Si, Sie sind von buchstäblich zahllosen Fakten umgeben, die Sie an dieses Jahrhundert, an dieses Jahr, an Monat und Tag … an diesen Moment binden – wie zehn Milliarden unsichtbare Fäden.«
Er nahm seine Gabel und wollte in den Kuchen stechen, klopfte sich dann jedoch mit ihr an die Stirn und sagte: »Und hier drinnen gibt es Millionen dieser unsichtbaren Fäden. Ihre Kenntnis, zum Beispiel, wer zu diesem historischen Zeitpunkt Präsident ist. Dass Frank Sinatra heute Großvater sein könnte. Dass Büffel nicht mehr über die Prärien jagen und Kaiser Wilhelm nicht mehr unbedingt als Bedrohung angesehen wird. Dass unsere Münzen nun aus Kupfer, nicht mehr aus Silber sind, dass Ernest Hemingway tot ist, alles nur noch aus Plastik hergestellt wird und dass auch mit Coke die Dinge nicht einfacher werden. Die Liste ist endlos, ein Teil Ihres Bewusstseins und des Bewusstseins der Gesellschaft. Und es verknüpft Sie, wie uns alle, mit dem Tag und dem jetzigen Augenblick, in dem genau diese Liste und nur sie möglich ist. Sie entkommen ihr niemals, und ich werde Ihnen den Grund dafür zeigen.« Danziger zerknüllte seine Serviette und legte sie an den Rand seines Tellers. »Fertig? Wollen Sie noch etwas essen?«
»Nein, es war sehr gut. Danke.«
»Ein sehr frugales Mahl, aber gut für Sie. So sagt man. Lassen Sie uns aufs Dach gehen. Ich werde den Kuchen mitnehmen.«
Draußen, am Ende des kurzen Korridors, kletterten wir die Betonstufen eines Fluchtwegs hinauf zu einer Tür, die sich auf das Dach öffnete. Es hatte morgens geregnet, aber jetzt war der Himmel fast klar, nur am Horizont zeigten sich noch Wolken, und einige Männer und Frauen saßen in Segeltuchstühlen, das Gesicht der Sonne zugewandt. Beim Geräusch unserer Schritte drehten sie sich um. Danziger lächelte und winkte ihnen zu. Das Dach war riesig; ein ganzer Straßenblock aus Teer und Kies, unterbrochen nur von den Reihen der Oberlichter und einem Urwald von Entlüftungsanlagen und Abzügen. Wir duckten uns unter den rostigen Drähten, die die höheren Abzugsschächte stabilisierten, umrundeten Wasserlachen und begaben uns in den frühnachmittäglichen Schatten, den der hölzerne Wasserturm warf. Danziger aß seinen Kuchen, und ich ließ meine Blicke schweifen.
Weit in der Ferne, im Süden und Osten, konnte ich den riesigen Klotz des Pan Am Building erkennen, der das gesamte Gebiet um die Grand Central Station überragte und mit seinem Schatten bedeckte. Dahinter sah ich die langweilige graue Spitze des Chrysler Building, rechts davon und weiter im Süden das Empire State Building. Dann folgte eine dichte Nebelwand, die von industriellen Abgasen gelb gefärbt war. Im Westen, nur ein oder zwei Häuserblocks entfernt, lag der Hudson, der dem trübgrauen Abwasserkanal
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