Zeitspuren: Mit einem Vorwort von Wolfgang Jeschke - Meisterwerke der Science Fiction (German Edition)
dieses längst vergangenen Tages einzufangen. Einen Moment später war das Paar in dem Gebäude daneben verschwunden. Als ich kurz darauf an seinem Eingang vorbeiging, las ich auf dem polierten Messingschild Gotham Hotel; ich versuchte mir vorzustellen, was mein junges Paar wohl dort machte, fragte mich, ob sie verheiratet waren und hoffte irgendwie, dass sie es nicht waren. Als ich weiterging, fragte ich mich, wie ich bloß auf solch einen Einfall kommen konnte.
Vor mir, an der südwestlichen Ecke der 53rd Street, vermutete ich Allen Dodsworth’s School for Dancing. Aber das Schild war nun verschwunden, wenngleich das Haus noch stand. Ich war nicht weiter überrascht: Die Art zu tanzen, wie ich es letzte Nacht erlebt hatte, war nicht das, was Allen Dodsworth gelehrt hatte. Lebte er noch? Und was stand an dieser Ecke in meiner Zeit? Das Tishman Building? Ich war mir nicht mehr sicher.
Vorbei an einem der großen alten Herrenhäuser der 5th Avenue, die ich von außen so gut kannte. Ich warf noch einen prüfenden Blick darauf, bevor ich diese Ansicht komponierte, auf die ich ein wenig stolz bin. Sehen Sie, wie die alte 5th Avenue im Vordergrund die neue 5th Avenue des 20. Jahrhunderts mit den großen modernen Hotels, die sich dahinter auftürmen, regelrecht einrahmt? Die Eigentümer der Häuser neben den Giganten haben deswegen sicher Zustände bekommen.
Und dann noch ein Bild. Vor mir lag ein Straßenabschnitt, dieser hier (s. rechts), der beinahe unverändert geblieben ist; eines der großen Herrenhäuser nahm würdevoll fast die Hälfte des Gehwegs ein. So unverwüstlich wie St. Pat in der Mitte links wirkte ein alter Bekannter (Hurra!), das Buckingham Hotel, auf der Straßenseite gegenüber etwas südlich gelegen, aber ich wusste, dass ich hier nur seinen Geist vor mir sah. Denn als ich den Ausschnitt im kleinen Fenster meines Suchers auswählte, konnte ich, der Zeit weit vorauseilend, anstelle des Buckingham Hotels das Saks-Gebäude an der 5th Avenue sehen, das ebenso alt wirkt. Nun, auch das Saks wurde ein guter alter Freund.
An der 49th Street blieb ich stehen, bog um die Ecke und sah eine graue Limousine; der grau uniformierte Chauffeur saß vorne im Freien und beugte sich weit über das Lenkrad, als er von der 5th in die West 49th einbog, scharf wendete und vor einem beeindruckenden Backsteingebäude stehen blieb. Er sprang heraus und nahm an der hinteren Tür des Wagens fast ›Hab-Acht‹-Stellung an. Dann wurden von einem ebenfalls uniformierten Diener die Türen des Gebäudes aufgerissen, und heraus trat diese eindrucksvolle Gruppe (s. nächste Seite), die zu der wartenden Limousine hinabschritt. Ihre Gesichter, ihre ganze Haltung zeugen davon, dass sie sich ihrer Stellung in der Welt sehr wohl bewusst sind. Mit dem Rücken gegen die von der Sonne gewärmte Hauswand gelehnt, stand ich einige Minuten lang da und betrachtete die vielen Gesichter, die auf der 5th an mir vorbeizogen. Ich wünschte, ich hätte den Mut gehabt, meine Kamera zu heben und einige dieser Gesichter aufzunehmen. Was dachten sie, diese Menschen von 1912, deren Ledersohlen an mir vorüberschlurften oder deren Absätze energisch auf das Pflaster klopften? Wer waren sie? Die Menschen anderer Zeiten sind nicht nur einfach Menschen wie wir, die sich nur durch seltsam anmutende Kleidung unterscheiden. Diese Gesichter waren anders, selbst die der Kinder, und brachten die Gedanken, Ereignisse und das Gefühl der einzigartigen Erfahrungen ihrer Zeit zum Ausdruck. Was also erzählten sie mir? Ich fand, sie blickten … ernsthaft. Die meisten von ihnen waren trotzdem fröhlich. Sie waren sich dieses besonderen Tages bewusst und genossen ihn. Und – was noch? Es gab noch etwas. Sie schienen keine Angst zu haben, glaube ich, oder beunruhigt zu sein – die meisten jedenfalls. Und keiner, den ich sah, schaute verärgert aus. Diese Menschen, die in ihrer eigenen Zeit und Welt die 5th Avenue entlangschlenderten, schienen mir getragen von einem Gefühl der Sicherheit und des Vertrauens. Ich wusste, dass sie sich täuschten; dass diese erfreulich friedliche Welt nur noch wenige Jahre Bestand haben würde. Wenn nicht … aber es schien anmaßend, dass ich irgendetwas dafür tun konnte.
Als ich aus meinen Gedanken auftauchte, erblickte ich vor mir ein noch nicht ganz in die Jahre gekommenes männliches Juwel, einen Stutzer, einen echten Dandy mit Kaiser-Wilhelm-Bart, grauen gestreiften Hosen, einem schwarzen Rock mit Plüschrevers und einem
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