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Zeitspuren: Mit einem Vorwort von Wolfgang Jeschke - Meisterwerke der Science Fiction (German Edition)

Zeitspuren: Mit einem Vorwort von Wolfgang Jeschke - Meisterwerke der Science Fiction (German Edition)

Titel: Zeitspuren: Mit einem Vorwort von Wolfgang Jeschke - Meisterwerke der Science Fiction (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jack Finney
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worden war. Nun konnte ich auch die Glühbirnen sehen, die an der Decke hingen – kerzenförmige Glühbirnen aus klarem Glas. Ein Schaffner in blauer Uniform stand lässig auf dem Trittbrett, das sich über die gesamte Länge des Wagens hinzog. Zwei Mädchen – eine mit einer großen rosafarbenen Schleife im Haar – saßen auf einer der Bänke; die eine redete lebhaft, gestikulierte, die andere hörte zu, nickte, lächelte. Dieser wunderbare Straßenbahnwagen zog an mir vorbei, das Lichtrechteck fiel jetzt über die Bordsteinkante und verlieh vorübergehend den Spitzen meiner Schuhe Glanz. Das Mädchen, das zuhörte und noch immer zu allem nickte, blickte zufällig zu mir herüber, und ich – froh gestimmt über die ganze Szene — hob spontan die Hand und winkte ihr zu.
    Das hatte sie gesehen, und selbst in diesem Bruchteil eines Augenblicks hatte ich Zeit, mich zu fragen: Würde eine junge Frau aus den 1880ern zurückwinken? Nein, sicherlich nicht. Oder eine Frau Ende des zwanzigsten Jahrhunderts – würde sie an ihrer Stelle zurückwinken? Nein, sie würde es nicht tun aus Angst, missverstanden zu werden. Aber das junge Mädchen in diesem New York, hier an diesem schönen Abend in den frühen Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts, sah mein Winken, lächelte und winkte, ohne einen Gedanken daran zu verschwenden, zurück. Nur eine winzige Geste, während sie vorbeirollte, aber sie sagte mir, dass ich wahrgenommen wurde, dass ich wirklich hier auf diesem Gehweg stand, während sie in diesem Moment vorbeifuhr. Doch diese kleine vertrauensvolle Geste sagte mir auch, dass ich in eine Zeit eingetreten war, deren Freundlichkeit und Unbekümmertheit bewahrt werden musste.
    Die kleine Insel aus Licht, die jetzt kurz vor der 5th Avenue langsamer wurde, rollte an mir vorüber. Für diese Nacht hatte ich genug gesehen. Die neue Stadt und alles, was sie für mich bereithalten mochte, lag in der Dunkelheit verborgen. Aber im Augenblick war ich es zufrieden, und als mich eine Müdigkeit überkam, die sich auf Geist und Körper gleichzeitig legte, hieß ich sie mit Freuden willkommen und machte mich auf den Weg zurück zum Hotel. Ich trug mich noch kurz ein und ging auf mein Zimmer, wohin ich mir ein kleines Abendessen bestellte. Und schließlich sank ich ins Bett, um in meiner neuen komischen Unterwäsche die erste Nacht in dieser Zeit zu verbringen.

15
    Das ist mein Zimmer; das Foto stammt aus der Hotelbroschüre, die ich mitgenommen habe, als ich mich eintrug — das Zimmer, in dem ich mich am nächsten Morgen ankleidete. Dabei blickte ich auf den Central Park hinunter, um mich davon abzulenken, dass ich in die Unterwäsche vom Vortag schlüpfen musste. Ich hasse getragene Wäsche, vor allem Socken. Nach einem schnellen Frühstück ging ich also zu einem Herrenbekleidungsgeschäft in der 6th Avenue und erstand im Geschäft nebenan, einem plötzlichen Impuls gehorchend, eine Kodak in einem roten Lederfutteral. Ich überlegte mir kurz den Kauf eines Mantels, vertraute dann aber darauf, dass es warm werden würde. Zurück unter die Dusche, dann mit meiner neuen Kamera zu einem gemächlichen Spaziergang die 5th Avenue hinunter.

    Dies ist der erste Schnappschuss; das Plaza Hotel ist rechts zu erkennen, links das Savoy. Beide waren für Julia neu und erstaunlich hoch. Direkt davor das spitze Dach eines alten Freundes, das Vanderbilt-Mansion. Aber was stellen die beiden hohen Gebäude dahinter dar? Ich fotografierte diesen Ausschnitt und sah mir noch eine Weile die 5th an. Sah so New York im Jahr 1912 aus? Wenn ja, dann gefiel es mir. Verglichen damit war das New York des 19. Jahrhunderts – das wird wohl niemand bestreiten können – hässlich. Die Gebäude sahen eingezwängt aus und zusammengestoppelt – mir gefiel dieses New York aus anderen als ästhetischen Gründen. Diese Stadt hier – hohe Gebäude, aber nicht überdimensional hoch, mit genügend Platz dazwischen – war offen; eine luftige, sonnige Stadt. So, fiel mir ein, wie Paris auch in späteren Jahren noch aussah.

    Ich bummelte die 5th Avenue hinunter. Es war noch zu früh, auf dem Broadway Ausschau nach etwas zu halten, was ich gleichzeitig zu finden hoffte und fürchtete. Meine Kamera wie auch die Stadt waren aufregend neu; eine Zeit lang machte ich einen Schnappschuss nach dem anderen. Ich überquerte die 59th, blickte in die Gegenrichtung und sah einen Doppeldeckerbus auf mich zukommen. Ich hatte wohl von ihnen gehört, aber noch niemals einen

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