Zeitspuren: Mit einem Vorwort von Wolfgang Jeschke - Meisterwerke der Science Fiction (German Edition)
Nun verstand ich den Witz. »Ich dachte«, sagte ich, »ich hätte meinen Teil zur Unterhaltung arbeitender Mädchen bereits letzte Nacht beigetragen, durch meine eigene Tanzvorführung.« Sie lächelte.
Niemand schien Karten zu kaufen. Wir folgten der Menge eine mit Teppichen ausgelegte Treppe zu unserer Rechten. Und als die Frauen vor uns wieder sachte den Rock anhoben, wurde mir bewusst, wie schnell ich mich anpasste — auch ich hatte bereits einen Kennerblick für weibliche Fesseln entwickelt. Jetzt ging es einen kurzen Gang entlang; die Frauen unterhielten sich und lachten viel; hinter ihnen schwebte eine Duftwolke in der Luft. Okay, Rube, ich folge nur den Anweisungen. Wann werde ich endlich mein Glück gefunden haben? »Hallo, Helen«, rief ein Mann hinter uns; das Jotta Girl drehte sich um, lächelte und antwortete. »Hallo, Archie.« Ich fragte mich, Helen Wer? Dann betraten wir einen Ballsaal: Parkett, riesige Spiegel an den Wänden, vorne auf der Bühne ein kleines erhöhtes Podest. Vergoldete Stühle standen in Reihen hintereinander; die Ankömmlinge ließen sich darauf nieder, und die Frauen strichen mit eleganten Gesten ihre Kleider glatt. Um das Podest herum waren Stühle in einem Halbkreis aufgestellt; ein grünes Band, das durch ihre Lehnen gezogen war, wies sie als reservierten Bereich aus.
Während wir unsere Plätze einnahmen, blickte ich mich neugierig um. Unter den wenigen Männern im Publikum waren einige Reporter, wie mir schien, denn sie kritzelten emsig etwas auf ihre Blöcke; es musste sich, so dachte ich bei mir, um ein ziemlich wichtiges gesellschaftliches Ereignis handeln.
Auf dem Podest hatten sich inzwischen drei Männer eingefunden, die nun vor ihren geöffneten Notenblättern saßen: ein Pianist, ein Klarinettist und ein Geiger. In der Mitte der Bühne, auf einem vergoldeten Stuhl, saß eine große, ungeheuer beeindruckende grauhaarige Frau in einem dunkelbraunen Kleid; ein Kneifer baumelte an einem Goldknopf von der Größe eines Dime vor ihrem Busen: Mrs. Israel höchstpersönlich, daran zweifelte ich keinen Augenblick. Sie nickte, lächelte zuvorkommend und unterhielt sich lebhaft mit dem Mann zu ihrer Rechten, der einen zweireihigen schwarzen Frack trug, dessen Saum seine Knie berührte. Er war um die fünfzig und trug sein dunkles, angegrautes Haar so lang, wie ich es noch nie bei jemandem gesehen hatte. Seine Frau, wie ich vermutete, zu der sich Mrs. Israel nun neigte, trug ein weißes Abendkleid mit einer Gardenie am Mieder.
Vor und hinter uns setzte sich das Lachen und Gemurmel fort, und dann war ich mir sicher, dass ich Zigarettenrauch in die Nase bekam und schaute mich um. Das Jotta Girl nickte. »Jemand von den Jüngeren raucht«, sagte sie. »Welch eine Schande. Froh, dass Sie hier sind?«
»Natürlich. In Wahrheit bin ich ein großer Anhänger von Madam Israel. Ich würde nie einen Vortrag von ihr versäumen.«
Mrs. Israel erhob sich, lächelte uns wohlwollend zu, klatschte dann gebieterisch in die Hände, absolut überzeugt davon, dass sie damit die Anwesenden zum Schweigen brächte und – genauso war es. Sie begann mit ihrer Rede, und was sie sagte, war, soweit ich mich erinnern kann, Folgendes: »Willkommen, meine lieben Mit-Fürsorgenden. Es freut mich, Sie hier an diesem Morgen versammelt zu sehen, den Sie sich, die Sie alle Vorkämpferinnen und Vorkämpfer für die Zukunft unserer New Yorker Gesellschaft sind, so bereitwillig von ihrer knappen Zeit abgerungen haben.« Sie hielt inne und sah uns an. Dann machte ihr Lächeln einem ernsthaften Gesichtsausdruck Platz, um zu zeigen, dass der heitere Teil ihrer Ansprache vorbei war. »Seit Längerem hat das wachsame Auge unseres Komitees in den Tanzhallen New Yorks Ausschreitungen beobachten müssen, die es jetzt, wie wir glauben, notwendig machen, gegen einige Formen des ›Turkey Trot‹ und des ›Grizzly Bear‹ vorzugehen, Tänze, die selbst in die gehobene Gesellschaftsschicht Eingang gefunden haben. Wir alle verschließen uns sicherlich nicht der Moderne. Dennoch sollte kein Zweifel daran bestehen, dass bei Gesellschaftstänzen die Regeln der Sittsamkeit nicht verletzt werden dürfen.« Ich warf dem Jotta Girl einen schnellen Blick zu – sie tat das Gleiche, und beide wandten wir uns mit gesammelter Miene wieder der Bühne zu. »Aber was ist gut, und was ist schlecht? Was sollen ein Aufseher einer jungen Arbeiterin antworten, wenn sie argumentiert, dass doch schließlich alle den ›Turkey Trot‹
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