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Zeitspuren: Mit einem Vorwort von Wolfgang Jeschke - Meisterwerke der Science Fiction (German Edition)

Zeitspuren: Mit einem Vorwort von Wolfgang Jeschke - Meisterwerke der Science Fiction (German Edition)

Titel: Zeitspuren: Mit einem Vorwort von Wolfgang Jeschke - Meisterwerke der Science Fiction (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jack Finney
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glich, der er nun einmal ist. An seinem gegenüberliegenden Ufer erhoben sich die Steilküste von New Jersey. Im Osten konnte ich zwischen einzelnen Gebäuden einen Blick auf den Central Park erhaschen.
    Danziger wies mit seiner Gabel auf den unsichtbaren Horizont und sagte: »Dort liegt – was? New York? Und die Welt dahinter? Ja, das kann man sagen, natürlich; ein New York und die Welt dieses Augenblicks. Aber genauso gut kann man sagen, dort liegt der sechsundzwanzigste November. Dort draußen liegt der Tag, den Sie seit heute Morgen durchwandern. Er ist angefüllt mit Fakten, denen Sie nicht entkommen und die ihn erst zu diesem Tag gemacht haben. Morgen wird es beinahe genauso sein, aber nur beinahe. In einigen Haushalten werden Dinge kaputt gehen, die heute zum letzten Mal benutzt werden. Ein alter Teller wird schließlich zerbrechen, ein oder zwei Haare werden grau aus ihren Wurzeln kommen, die ersten Anzeichen einer Krankheit werden sich einstellen. Einige Menschen, die heute noch leben, werden morgen tot sein. Manche Häuser werden sich ein wenig mehr ihrer Fertigstellung nähern. Oder ihrer Zerstörung. Und was dann dort draußen liegen wird – auch dem ist nicht zu entkommen –, wird ein etwas anderes New York, eine etwas andere Welt und ein etwas anderer Tag sein.« Danziger setzte sich zum äußersten Rand des Daches hin in Bewegung und stach dabei ein Stück seines Kuchens ab. »Ein sehr guter Kuchen. Sie hätten auch welchen nehmen sollen. Ich habe dafür gesorgt, dass wir einen verdammt guten Koch einstellen konnten.«
    Es war schön hier oben: während wir umherschlenderten, fühlte sich das vom Boden reflektierte Sonnenlicht angenehm auf der Haut an. Als wir das Ende des Daches erreicht hatten, lehnten wir uns an die Mauerbrüstung. Wieder zeigte Danziger auf die Stadt. »Der Grad der täglichen Veränderung ist normalerweise so gering, dass man ihn kaum wahrnimmt. Dennoch haben uns diese geringen Veränderungen aus einer Zeit weggeführt, in der es statt der Ampeln und Feuerwehrautos Felder, Bäume und Bäche gab; Kühe standen auf den Weiden, Männer trugen Dreispitze, britische Segelschiffe ankerten in dem klaren, von Bäumen beschatteten East River. Das alles gab es einmal dort draußen, Si. Können Sie es sehen?«
    Ich versuchte es. Ich starrte auf die unzähligen Fenster der rußigen Fassaden von Hunderten von Gebäuden, hinunter in die Straßenschluchten, die mit Autos zugeparkt waren. Ich versuchte, eine ländliche Szenerie heraufzubeschwören, stellte mir Männer vor, die Schnallen an den Schuhen hatten und weiße Perücken auf dem Kopf, die eine staubige Landstraße entlanggingen, die man Broadway nannte. Es war nicht möglich.
    »Sie können es nicht? Natürlich nicht. Dabei kann man das Gestern noch sehen, vieles davon ist noch vorhanden. Und vieles von 1965, ’62, ’58. Es gibt sogar noch vieles vom neunzehnten Jahrhundert. Und trotz all dieser gesichtslosen Glaskästen und Monstrositäten wie dem Pan Am Building und anderen Verbrechen gegen Mensch und Natur« – er fuchtelte mit der Hand vor dem Gesicht, als wollte er das alles wegwischen – »gibt es Relikte aus früheren Tagen. Einzelne Bauwerke. Manchmal mehrere nebeneinander. Und entfernt man sich vom Zentrum der Stadt, gibt es ganze Blocks, die noch immer so stehen wie vor fünfzig, siebzig, achtzig oder neunzig Jahren. Es gibt verstreut liegende Plätze, die ein ganzes Jahrhundert alt sind, und einige wenige, die Washington noch betreten hat.« Rube war inzwischen auch hier oben, wie ich sah; er trug einen Filzhut und einen leichten Mantel. Respektvoll stand er außer Hörweite. »Diese Stätten sind auf uns gekommene Teile einer Welt, Si« – wieder strich Danzigers Gabel über den Horizont – »die einst so real war wie der heutige Tag: überlebende Fragmente eines klaren Aprilmorgens anno 1871, eines grauen Winternachmittags anno 1840, einer verregneten Dämmerung anno 1793.« Er hatte Rube einen schnellen Blick zugeworfen, dann schaute er mich wieder an. »Eines dieser ›Überlebenden‹ kommt meiner Meinung nach einem Wunder gleich. Haben Sie jemals das Dakota gesehen?«
    »Das was?«
    Er nickte. »Wenn Sie es gesehen hätten, dann würden Sie sich an den Namen erinnern. Rube!« Rube trat zackig vor, der wachsame Leutnant, der dem Befehl seines Colonels gehorcht. »Zeigen Sie Si bitte das Dakota.«
    Draußen vor dem großen Lagerhaus wandten sich Rube und ich nach Osten, zum Central Park; in dem kleinen

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