Zeitspuren: Mit einem Vorwort von Wolfgang Jeschke - Meisterwerke der Science Fiction (German Edition)
hielt Zeitung und Kinn hoch nach oben und drehte sich zur Straßenlampe, damit ihr Licht genau auf die Zeitschrift fiel. »›New York, New York‹«, las er laut vor. »›In der Variety der letzten Woche schrieb George M. Young eine Besprechung der Aufführungen bei Keith, Philadelphia, in der er eine Darbietung am Victoria erwähnte, die eine Kopie der Papageiennummer LaMonts sein muss, da sonst die Ähnlichkeit der beiden Vorstellungen kaum zu verstehen ist. Ich denke, Mr. Young irrt, wenn er diese Nummer mit der von LaMonts Papageien vergleicht. LaMonts Papageien machen Purzelbäume, schwingen hin und her – und so fort, was in der anderen Vogelnummer erwiesenermaßen nicht vorkommt. Sämtliche Vögel LaMonts, fünfzig an der Zahl, sind ausgebildet, während die andere Vorstellung nur aus drei Vögeln besteht, die nur einen Trick aus LaMonts Nummer zeigen, den Glockentrick. Tatsächlich gehört dieser Trick niemand anderem als LaMont. Genauso verhält es sich mit allen anderen Darstellungen, die ähnlich aufgebaut sind. Sie versuchen, sie nachzuahmen, erreichen aber nicht die Resultate der Papageien LaMonts. Unterzeichnet LaMont.‹« Als er die Zeitschrift zusammenfaltete, um sie mir zurückzugeben, lächelte ich über die unfreiwillige Komik des Schreibens. Die anderen aber ließen sich nicht anstecken, sie schauten mich nur etwas befremdet an und blickten dann zur Seite; ich spürte, wie mein Gesicht heiß wurde. Dolores legte mir tröstend die Hand auf die Schulter. »Nicht Ihre Schuld, Si. LaMonts Brief klingt wirklich komisch. All diese Spitzfindigkeiten. Aber seine Vorstellung ist alles, was er hat, verstehen Sie. Einfach alles, sie ist sein Leben, ohne sie wäre er nichts. Und uns allen geht es ebenso. Er muss sie schützen. Akquisiteure lesen diese verdammten Berichte, darauf können Sie wetten, Akquisiteure. Also kann LaMont nicht zulassen, dass seine Darbietung mit fünfzig Vögeln mit irgendeiner anderen verwechselt wird.« Sie lächelte mir zu. »Verstehen Sie mich?«
Ich nickte, ebenso wie der alte Mann, der jetzt sagte: »Man muss um seine Nummer kämpfen. Verdammt, sie stehlen sie sogar dem, der sie selbst bloß gestohlen hat. Hören Sie sich das an.« Er nahm die Zeitschrift von meinem Schoß, schlug noch einmal dieselbe Seite auf und las vor: »›Chicago. 8. Januar, an den Herausgeber der Variety. Betrifft: Brief, der James Neary beschuldigt, Mike Scotts Aufritt mit Frack und grüner Strumpfhose und daran befestigten Medaillen gestohlen zu haben. Ich möchte feststellen, dass ich und Tom Ward dies als Erste im Odeon Theatre, Baltimore, Maryland, am 13. Februar 1876, zur Aufführung gebracht haben. Unterzeichnet W. J. Malcolm.‹« John grinste mich an und gab mir zu verstehen, dass er es komisch fand. »Kannte mal jemanden«, sagte er, »der behauptete, er hätte sich die Zeile ›schön, aber dumm‹ ausgedacht. Und jedes Mal, wenn er sie woanders hörte, rastete er beinahe aus.« Erneut hob er die Variety an seine Brillengläser und las: »›London, 19. Dezember. An den Herausgeber der Variety. Ich möchte Ihre Aufmerksamkeit darauf lenken, dass Künstler oft darunter zu leiden haben, dass andere Künstler sich ihrer Ausdrucksweise oder ihrer Werbesprüche bedienen. Meine Tochter Alice Pierce zum Beispiel präsentiert eine Reihe von Stern-›Impressionen‹. Nun musste ich feststellen, dass auch andere Künstler das Wort ›Impression‹ verwenden. Unterzeichnet M. Pierce.‹«
Ich nickte; diesmal, angesichts des alten Mannes, der sich für seine Tochter einsetzte, lächelte ich nicht. »Wenn sie dir deine Nummer stehlen«, sagte Dolores, während ein junger Mann in Hemdsärmeln und ohne Kragen in der Tür hinter ihr auftauchte, »dann ist das das Schlimmste, was dir passieren kann.«
»Oh, es gibt Schlimmeres«, sagte der Neuankömmling; dann stellte Dolores uns gegenseitig vor. Er hieß Al, aber auch er hatte nichts von Tessie und Ted gehört. Er setzte sich neben Dolores und fuhr mit seiner Geschichte fort. »Ihr kennt Noble und Henson? Gesang und Kreuzfeuer.« Alle nickten und murmelten zustimmend. »Nun, letzte Woche sah ich Pat im Hoffman House. Er arbeitet im Moment nicht, sagte aber, dass sie bald ein Engagement hätten. Nun, Pat erzählte mir, dass ihm und seinem Team letzten Sommer vom Orpheum eine wöchentliche Gage von zweihundert angeboten worden war. Am nächsten Tag sollte er den Vertrag unterzeichnen. Er erzählte allen möglichen Leuten davon und traf abends auf einen
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