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Zeitspuren: Mit einem Vorwort von Wolfgang Jeschke - Meisterwerke der Science Fiction (German Edition)

Zeitspuren: Mit einem Vorwort von Wolfgang Jeschke - Meisterwerke der Science Fiction (German Edition)

Titel: Zeitspuren: Mit einem Vorwort von Wolfgang Jeschke - Meisterwerke der Science Fiction (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jack Finney
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erinnert mich an japanische Kunst, die Perspektive ist flach, sogar die Augen sind schlitzartig gezeichnet. Uns erscheint die Zeichnung als unwirklich, für das Publikum der Zeit aber …«
    »Ganz recht. Halte du nur deine Vorlesung und bring mich um meinen Job. Ich habe eine Familie zu ernähren, musst du wissen. Okay, wir gaben Sidney Urquhart unter anderem eine Kopie dieses Holzschnitts. Du kennst ihn doch sicher?«
    »Ich habe Arbeiten von ihm gesehen: Straßenszenen, Stadtansichten. Meistens Aquarelle. Er ist ziemlich gut.«
    »Es gelingt ihm außerordentlich gut, das Wesen einer Stadt zu erfassen. Glaubst du, dass es ihm hiermit gelungen ist?« Martin drückte den Knopf der Fernbedienung, und ein Sidney Urquhart, den ich gerne selber besessen hätte, füllte die Leinwand aus. Die selbe Szene, die wir eben betrachtet hatten, Detail für Detail. Es war ebenfalls eine Zeichnung. Aber sie war in Farbe ausgeführt, die Umrisse waren mit Pinsel und chinesischer Tusche in intensiven Schattierungen ausgefüllt. Die gleiche Szene, aber wesentlich impressionistischer; es war lebendig. Was ich so oft versuchte hatte zu sehen, wenn ich in Katies stereoskopischen Apparat schaute, hatte er auf das Papier gebannt; die Pferde vor den Kutschen trotteten wirklich, die Pferde vor den Fuhrwerken neben ihnen schwitzten vor Anstrengung. Wagenräder drehten sich, die Speichen fingen das Sonnenlicht ein, ein bärtiger Mann, der sich durch den Verkehr schlängelte, huschte vorüber, leichtfüßig und schnell; man sah es förmlich. Als Urquharts Skizze auf der Leinwand erschien, glaubte ich für einen Moment, auf dem Gehweg zu stehen und die Szene in Wirklichkeit vor mir zu haben.
    Es klickte, die Leinwand wurde weiß und leer, ein erneuter Klick, und auf dem Rechteck erschien eine Fotografie in Sepia: Zwei Frauen in langen Kleidern und breitkrempigen Hüten gingen, den Rücken zur Kamera, einen Alleeweg entlang; eine von ihnen trug einen aufgespannten Sonnenschirm. Links der mit Gras bewachsene Parkweg, gesäumt von großen Bäumen, deren Schatten auf den Weg fielen, auf der rechten Seite sanft ansteigende Rasenflächen. Hinter dem Weg eine schattengesprenkelte Straße, die bis auf einen offenen Buggy leer war; das Pferd war an einen Begrenzungspfosten gebunden. Ein interessanter Augenblick; der Fotograf hatte eine schöne Szene eingefangen. In dem Halbdunkel, in dem ich saß, konnte ich glauben – nein, ich war überzeugt davon –, dass dies einmal Wirklichkeit gewesen war. Aber es wirkte eingefroren, unendlich weit weg, und die beiden Frauen dort oben würden niemals den nächsten Schritt tun.
    Ein Doppelklick, und Sidney Urquharts Interpretation desselben Augenblicks füllte farbig die Leinwand. Wiederum nur eine Skizze, eine Impression, aber der nächste Schritt der Frauen drängte sich förmlich auf. Sie gingen wirklich, ihre Körper flossen in den nächsten Schritt, ihre Füße hoben sich, und man wusste, dass sich über ihren Köpfen, aber nicht mehr im Bild, die Blätter der Bäume bewegten und dass sich die beiden Frauen, gab man sich nur Mühe hinzuhören, leise unterhielten.
    Wir verbrachten den ganzen Morgen mit diesen Bildern, betrachteten erst eine Zeichnung oder eine Fotografie aus den frühen Achtzigern, dann die ›Übersetzung‹, so bezeichnete sie Martin, von Urquhart, Karl Morse, Murray Sidorfsky und anderen. Nicht alle waren gelungen, manche nur teilweise. Aber einige von ihnen riefen das erregende Gefühl hervor, das sich einstellt, wenn man glaubt, die Gegenwart eines vergangenen Moments wahrzunehmen.
    Lange bevor wir fertig waren, war mir klar, dass ich das auch konnte. Ich brauchte keinen Urquhart oder andere Maler; ich konnte einen alten Holzschnitt oder eine Fotografie betrachten und mich so lange in sie hineinversetzen, bis ich die längst vergangene Wirklichkeit gefunden hatte und berühren konnte. Ich konnte es genauso gut wie die Künstler der neuen Zeichnungen, die wir gesehen hatten – und besser, dachte ich. Ob ich es auch zeichnerisch umsetzen konnte, ob ich dafür Künstler genug war, darüber war ich mir nicht sicher; ich bezweifelte es. Aber ich wusste, ich konnte es im Geist.
    Auf dem Weg zum Mittagessen sprach ich mit Martin darüber; er nickte. »Wir haben gehofft, dass es so sein würde; Rossoff hat es vorhergesagt. Aber du wirst nicht viel Zeit haben, wirkliche Zeichnungen anzufertigen; der Zweck dieses Morgens war, dir eine Ahnung davon zu vermitteln. Wir haben noch viel, was du zu

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