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Zeitspuren: Mit einem Vorwort von Wolfgang Jeschke - Meisterwerke der Science Fiction (German Edition)

Zeitspuren: Mit einem Vorwort von Wolfgang Jeschke - Meisterwerke der Science Fiction (German Edition)

Titel: Zeitspuren: Mit einem Vorwort von Wolfgang Jeschke - Meisterwerke der Science Fiction (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jack Finney
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Baumstamm am Bordstein und versuchte uns beide zu stützen; an meiner Stirn und Oberlippe hatte sich Schweiß gebildet, und ich wusste, dass ich leichenblass aussah. Ich fixierte die Schuhspitzen und atmete tief die scharfe, kalte Winterluft ein; dann spürte ich den Schweiß trocknen und wusste, dass mit mir wieder alles in Ordnung war. Ich sah Kate an; ihre Augen waren nun wieder offen, ihre Zunge netzte die Lippen. »Ich bin okay, danke«, sagte sie und richtete sich auf. »Aber, oh mein Gott, Si!«, flüsterte sie. Ich konnte nur nicken. Wir drehten uns nicht sofort um; wir konnten uns nicht dazu durchringen. Aber wir hörten das Kreischen von Eisenrädern, die durch knirschenden, trockenen Schnee fuhren, hörten das Holz- und Eisengerassel des Wagens, das Niedersausen von Lederpeitschen auf Fell. Dann drehten wir – ganz langsam – unsere Köpfe zu dem kleinen, bogenförmig überdachten Wagen mit hohen Holzspeichenrädern um, der von zwei ausgemergelten Pferden gezogen wurde; ihr Atem stieg bei jedem Schritt weiß dampfend in die Winterluft. Er war nun ganz nah und füllte unser Blickfeld aus; und während wir ihn anstarrten, wussten wir, woher und aus welcher Zeit wir eigentlich kamen. Es dauerte einen Moment, bis sich mein Gehirn der Wahrheit bewusst wurde: Wir waren hier, an einer Ecke der Upper 5th Avenue, an einem grauen Januarnachmittag im Jahre 1882; und ich zitterte und war einen Augenblick lang voller Furcht. Dann erfüllten mich Freude und Neugier.

9
    Ich blickte Kate an, und sie lächelte; dann drehte ich mich um und blickte nach Süden, die gesamte vertraute Länge der 5th Avenue hinunter, und wieder bekam ich weiche Knie.
    Jeder kennt, aus Filmen oder der Realität, die herrliche Glitzerwelt der 5th Avenue, die breite Straße, an der dicht gedrängt unglaubliche Türme aus Metall, Glas und majestätischem Stein stehen: das glitzernde Corning Glass Building, dessen Glaswände sich endlos himmelwärts zu erheben scheinen; das gewaltige, mit Aluminium verkleidete Tishman Building; die mächtigen Steinmassen des Rockefeller Center; die vom Wetter gebeutelte St. Patrick’s Cathedral, deren Zwillingstürme zwischen den sie umgebenden riesigen Gebäuden zwergenhaft klein sind. Und die Glitzerläden: Saks, Tiffany’s, Jensen’s; und die große, alte, schmutzig weiße Bibliothek an der Ecke der 42nd Street, deren Eingang zwei Steinlöwen bewachen. Die wahrscheinlich berühmtesten siebzehn Straßenblocks der Welt stehen hier, und weiter unten an dieser erstaunlichen Straße die unbegreifliche Höhe des Empire State Building, an der 34th Street, wenn – was jedes Mal einem Wunder gleichkommt – die Luft klar genug sein sollte, um bis oben hin sehen zu können. Das war das Bild – Asphalt, Stein und Türme aus Metall und Glas, die den Himmel berühren –, das in meinem Kopf war, als ich mich umwandte und die Straße hinunterblickte.
    Verschwunden. Alles verschwunden! Diese Straße war winzig! Schmal und gepflastert! Eine fast ländlich anmutende Straße mit Bäumen wie in einer Villengegend. Unfassbar. Mit offenem Mund starrten wir auf die Häuser aus braunem Sandstein und Ziegeln, auf die Bäume und die eingezäunten, schneebedeckten Vorgärten. Auf der gesamten Länge dieser ruhigen Straße waren die höchsten Bauwerke, die ich sehen konnte, die Spitzen der Kirchentürme, sonst befand sich nichts über ihnen als der graue Winterhimmel. Und während wir so gafften, näherte sich ein von Pferden gezogener Bus; seine Räder ratterten auf den Pflastersteinen dieser seltsamen kleinen 5th Avenue; es war das einzige Beförderungsmittel, das hier weit und breit zu sehen war.
    Kate zupfte mich am Ärmel und flüsterte. »Das Plaza Hotel ist verschwunden!« Sie zeigte darauf, ich wandte mich um und starrte hinüber zur 59th Street, wo das Plaza eigentlich stehen musste; stattdessen war dort – nichts; als sei das Hotel einfach weggewischt worden. Wir mussten aufhören, auf diese Art zu denken: Es war nicht verschwunden, es war einfach noch nicht gebaut. Aber die Plaza selbst – der kleine Platz an der 5th Avenue gegenüber der Straße vom Park – die war da; in ihrer Mitte ein Brunnen, der nun im Winter abgestellt war. Ich stieß Kate an: »Schau. Der Droschkenplatz!« Dort standen sie und warteten, die uns wohlvertrauten fünf, sechs oder sieben Pferdedroschken, die an der Bordsteinkante der 59th, neben dem Park, hintereinanderstanden und dort noch immer stehen.
    Wir hörten ein Geräusch und

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