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Zeitspuren: Mit einem Vorwort von Wolfgang Jeschke - Meisterwerke der Science Fiction (German Edition)

Zeitspuren: Mit einem Vorwort von Wolfgang Jeschke - Meisterwerke der Science Fiction (German Edition)

Titel: Zeitspuren: Mit einem Vorwort von Wolfgang Jeschke - Meisterwerke der Science Fiction (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jack Finney
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fragte mich, ob es in diesem Krankenhaus überhaupt Betäubungsmittel gab.
    In dem Fenster eines Hauses an der südwestlichen Ecke der 5th und der 53rd Street sah ich ein Schild mit der Aufschrift ALLEN DODSWORTH’S SCHOOL FOR DANCING , dann glitten zwei gute alte Freunde an unserem Fenster vorüber. Zuerst, an der südwestlichen Ecke der 52nd Street, eine der Vanderbilt-Villen. Ich konnte mich nur noch schwach daran erinnern, dass ich als kleiner Junge bei einem Besuch in New York mit meinem Vater eine halbe Stunde davor gestanden hatte und zusehen durfte, wie das alte Gebäude langsam abgerissen wurde, um Platz für das Crowell-Collier Building zu machen. Es war damals alt, fleckig, verdreckt und verkommen; hier nun stand es in seinem ganzen Jugendschmelz, ein schimmerndes Château aus reinem, weißem Kalkstein. An der Straße gegenüber befand sich das katholische Waisenhaus, und in dem Block dahinter erblickte ich eine wirklich alte Freundin. Lächelnd näherten wir uns ihr, Kate flüsterte: »Ich bin so froh und erleichtert, sie zu sehen.«
    Ich nickte.
    »Schon ihr Anblick«, sagte ich, »lässt mich fast zum Katholizismus übertreten.« Denn hier stand sie, die alte Freundin, St. Pats gute, graue Kathedrale; sie sah riesig aus, höher als alle anderen Gebäude und unverändert – nein, sie war verändert, irgendwie sah sie anders aus. Aber wo war der Unterschied? Ich presste mein Gesicht an die Scheibe, sah hinaus und hinauf, und die beiden Türme waren – natürlich nicht verschwunden; sie waren nur noch nicht gebaut. Wir befanden uns nun direkt vor ihr, die Kathedrale füllte die gesamte Fensterreihe unseres Wagens, davor, wie verschwommene Geister, die Spiegelung unserer Gesichter. Ihr Anblick war so vertraut, dass mir plötzlich schien, als müsse die 5th Avenue, so wie ich sie kannte, doch da sein, und ich blickte die Straße zum Central Park hinauf und spürte erneut den Schock: vor mir Unmengen kahler Bäume, unbekannter Häuser und Kirchen, deren Turmspitzen hoch in den Himmel zeigten. Ich schaute wieder nach vorn – wir fuhren gerade an einem uns völlig unbekannten Gebäude namens Buckingham Hotel vorbei, das sich genau gegenüber von St. Pat an der 50th Street befand – und sahen immer noch elegante Häuser, die sich scheinbar ohne Unterbrechung bis zur Battery hinzogen.
    Ich bemerkte, dass wir angehalten hatten und die Tür aufging. Ein Mann kletterte herein, warf sein Fahrgeld in den Blechkasten, setzte sich uns gegenüber und streifte uns mit einem gleichgültigen Blick. Dann, die Zügel knallten, und wir hatten uns wieder in Bewegung gesetzt, schlug er die Beine übereinander und sah ebenfalls aus dem Fenster. Ich beobachtete ihn aus den Augenwinkeln, angespannt, erregt, beinahe ängstlich; zum ersten Mal betrachtete ich wirklich ein lebendes menschliches Wesen aus dem Jahr 1882.
    Auf gewisse Weise war der Anblick dieses einfachen Mannes, den ich nie wieder in meinem Leben gesehen habe, die intensivste Erfahrung meines Lebens. Dort saß er, starrte gedankenverloren aus dem Fenster, trug eine seltsame hohe Melone und eine abgetragene schwarze Jacke. Sein grün-weiß gestreiftes Hemd besaß keinen Kragen und wurde am Hals mit einer Messingspange zugehalten; ein Mann um die sechzig, glatt rasiert.
    Ich weiß, es klingt absurd, aber die Farbe seines Gesichts war faszinierend: es war keines der bewegungslosen braunweißen Gesichter von alten Fotografien. Während ich ihn beobachtete, berührte die rosafarbene Zunge die aufgesprungenen Lippen, die Augen zwinkerten, während hinter ihm die Ziegel- und Steinbauten vorüberzogen. Ich sehe es noch vor mir, dieses Gesicht vor dem langsam sich bewegenden Hintergrund, und höre das nicht enden wollende Geratter der eisenbeschlagenen Räder auf dieser Mischung aus zusammengepresstem Schnee und holprigem Kopfsteinpflaster. Es war zwar die Art von Gesicht, die ich auf den alten braunen Fotografien studiert hatte, aber sein Haar unter der Hutkrempe war schwarz mit grauen Strähnen, seine Augen waren blau und durchdringend, seine Ohren, die Nase und das frisch rasierte Kinn waren gerötet von der Winterkälte; seine zerfurchte Stirn fahl und bleich. Es gab nichts Bemerkenswertes an ihm; er sah müde aus, traurig und gelangweilt. Aber er lebte und schien gesund zu sein, voller Kraft und Energie, wahrscheinlich hatte er noch einige Jahre vor sich. Ich wandte mich an Kate, mein Mund berührte fast ihre Ohren, als ich ihr zuraunte: »Als er ein Junge war,

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