Zeitspuren: Mit einem Vorwort von Wolfgang Jeschke - Meisterwerke der Science Fiction (German Edition)
sehen konnte. Eine Ahnung drohenden Unheils erfüllte sie, überwältigender Schrecken bemächtigte sich ihrer Seele und lähmte all ihre Sinne.‹« Ich blickte auf, um Kate zuzulächeln; sie saß auf dem Sofa, die Füße untergeschlagen. Ich lächelte angesichts der überladenen Prosa; ich war mir sicher, dass sich vernünftige, aufgeklärte Leute in den Achtzigern durchaus über diese Art von Literatur amüsiert hatten. Aber mein Lächeln war nicht sehr ausgeprägt und Kate verstand den Wink; ich hatte inzwischen viele dieser Bücher gelesen, und so lächerlich deren Stil auch sein mochte, er hatte sich längst abgenützt, daher war ich, indem ich häufig weiterblätterte und Seiten übersprang, nur an der Handlung interessiert, die weder besser noch schlechter war als die der vielen Horror- und Fantasie-Romane des zwanzigsten Jahrhunderts, die ich gelesen hatte.
Wir wechselten uns beim Vorlesen ab, legten eine Pause ein, um Kaffee zu trinken, später dann, um Mittag zu essen, und beendeten das Buch am Nachmittag. Das Buch schloss, wie die meisten dieser Bücher schließen: Sie fassen zusammen, was den Charakteren nach dem Ende der Geschichte passiert. Eigentlich keine schlechte Idee; ich habe viele Bücher gelesen und oft den Wunsch verspürt, zu erfahren, was mit den Leuten, die ich gerade kennengelernt hatte, nach der letzten Seite geschieht, je besser das Buch, je realer die Charaktere, umso mehr wollte ich über sie in Erfahrung bringen.
Nun, Mrs. Southworth befriedigte diese Neugierde. Kate las gerade vor, als wir zur letzten Seite kamen. »›Nur wenig ist noch zu berichten‹«, las sie. »›Raphael Riordan und seine Stiefmutter, Mrs. Blondelle, kamen, um sich um den Toten zu kümmern und seine Bestattung in die Wege zu leiten. Gentiliska, die zu einer sehr stattlichen Matrone geworden war, blickte den Verblichenen mit einer seltsamen Mischung aus Mitleid, Abscheu, Trauer und Erleichterung an.‹«
»Stopp«, sagte ich. Als Kate hochblickte, schaute ich sie aus weit geöffneten Augen an, runzelte die Stirn und zog einen Mundwinkel nach oben. »Sieht das wie Mitleid aus?« »Ungefähr.«
Ich verstärkte das Stirnrunzeln, ließ ein Auge vor Mitleid weit offen und kniff das andere leicht zu. »Ich habe gerade Abscheu hinzugefügt. Und nun schau her: jetzt kommt Trauer.« Wehleidig öffnete ich den Mund. »Und nun die Krönung: Erleichterung!« Ich warf das Kinn nach oben, öffnete so weit wie möglich den Mund und versuchte, den bisherigen Gesichtsausdruck beizubehalten. Ohne den Mund zu bewegen, sagte ich: »Wie sehe ich aus?«
»Als ob du erwürgt wirst.«
»Das habe ich befürchtet. Aber ich wette, Gentiliska schaffte das mühelos. Sie hätte wahrscheinlich noch Erschrecken, Verdruss und Ekstase hinzugefügt, ohne ihre Gesichtsmuskulatur übermäßig zu strapazieren.«
»Irgendwie magst du Gentiliska, stimmt das?«
»Meine literarische Lieblingsfigur, für alle Zeiten. Bitte fahre fort.«
»›Raphael, mittlerweile ein ernster und stattlicher Mann, traf Mrs. Berners; sein Wesen war von Trauer erfüllt. Er verehrte sie so rein und beständig wie immer. Zweifel an seinem Glauben kannte er nicht. Die Witwe Blondelle verkaufte ihre Anteile an den Schwefelquellen in Dubarry White und kehrte mit ihrem Stiefsohn Raphael Riordan nach England zurück. Mr. und Mrs. Berners haben nur ein Kind – Gem! Aber sie ist der Juwel ihrer Herzen und Augen, und sie ist verlobt mit Cromartie Douglas, den sie wie ihren eignen Sohn lieben.‹«
Kate schloss das Buch; beide lächelten wir ein wenig. Aber dann sagte sie ernst: »Ich bin froh, dass Gem und Cromartie sich verloben. Auch wenn es nach dem Schluss der Geschichte ist. Ich dachte mir schon, dass das passieren würde, aber es ist schön, es zu wissen.«
»Ja. Was Gentiliska und ihre gemischten Gefühle angeht – je mehr man über sie erfährt, desto besser. Und ich sage dir, was mir außerdem noch gefällt: Mir gefallen Leute, denen solche Geschichten wie diese hier gefallen.« Kate nickte, und schweigend saßen wir da. Der Abzug im Kamin röhrte verhalten, dann barst ein Kohlenstück. Ich sagte: »Kate, sie sind dort draußen.« Ich wies zum Fenster; alles, was wir sahen, war der silberne winterliche Himmel. Ich meinte, was ich gesagt hatte; den ganzen Tag über hatte ich die lebendige Präsenz New Yorks im Winter 1882 gespürt, die sich hier versammelt hatte – stärker, wirklicher als in all den Tagen und Wochen, die zurücklagen. Denn eine Erkenntnis
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