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Zeitspuren: Mit einem Vorwort von Wolfgang Jeschke - Meisterwerke der Science Fiction (German Edition)

Zeitspuren: Mit einem Vorwort von Wolfgang Jeschke - Meisterwerke der Science Fiction (German Edition)

Titel: Zeitspuren: Mit einem Vorwort von Wolfgang Jeschke - Meisterwerke der Science Fiction (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jack Finney
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dass mit ein paar wenigen schwarzen Linien auf weißem Papier ein menschliches Gesicht dargestellt werden kann. Ich habe jedoch gelesen, dass manche Völker das nicht können; eine Zeichnung oder gar eine Fotografie ergibt für sie keinen Sinn, solange sie nicht gelernt haben, sie wie wir von der Abstraktion in die Wirklichkeit zu übersetzen. Und diese Skizze auf dem vereisten Fenster – schnell hingeworfene, andeutende Linien, die vom Betrachter gefüllt werden mussten – war eine Technik des zwanzigsten Jahrhunderts, die hier genauso unverständlich war wie ein unbekannter Code – der sie eigentlich auch war.
    Also bat ich Julia: »Bleiben Sie hier stehen, bewegen Sie sich nicht, ich brauche fünf Minuten, nicht mehr.« Ich wartete ihre Zustimmung nicht ab, sondern trat schnell an das mittlere Fenster und versuchte, so schnell wie möglich zu arbeiten. Ich benutzte wieder meinen Schlüssel und wendete eine Technik an, die ich manchmal zum Spaß mit Martin Lastvogel ausprobiert hatte: Die Technik des Holzschnittes. Jede Linie war zu sehen, nichts musste gedanklich ergänzt werden; das ganze Gesicht, Augen, Nase, Lippen, alles sorgsam ausgezeichnet, dann mit feinen Linien die Schatten hinzugefügt. Ich nutzte die gesamte Fensterfläche; bei dieser Technik brauchte ich mehr Platz. Das Glas war bis auf die oberen Ecken mit Frost überzogen; aber die Ecken waren klar, glänzend schwarz und wirkten vor der schwarzen Nacht draußen wie ein Spiegel. Aus der Nähe konnte ich hindurchsehen; ich sah die Straßenlaternen, die schneebedeckten Gehwege und die Straße, die undeutlichen schwarzen Umrisse der Sträucher und Bäume des Gramercy Park. Und plötzlich, eilig den Weg zum Haus einschlagend, sah ich ihn; die kurze, gedrungene, schon vertraute Gestalt mit dem Zylinder auf dem Hinterkopf. Ich hielt inne in meinem Tun und beobachtete ihn. Dann bog er in unseren Eingang ein, entschwand aus meinem Blickfeld, und ich schaute zu Julia hinüber und zeichnete weiter.
    So gut sie es vermochte, ohne dabei ihre Pose aufzugeben, beobachtete sie, was ich tat. Als ich nun zu ihr hinüberblickte, hob sie die Arme, nestelte an ihrem Nacken herum und ließ dann die Haare herab, die ihr über die Schulter fielen. Sie hob leicht das Kinn und in ihren Augen leuchtete Stolz.
    Ihr Haar war dunkelbraun, wunderbar dicht, und nun, da es geöffnet war, lang und glänzend. Herrlich, genau wie sie. Ich bin mir sicher, dass mein Gesicht verriet, was ich dachte. »Schön, einfach schön«, murmelte ich; ihre Lippen zuckten vor Freude, sie errötete. Niemand außer uns hatte es bemerkt. Da ich damit gerechnet hatte, nahm ich die leisen Geräusche des Öffnens und Schließens der Eingangstür sofort wahr, aus den Augenwinkeln heraus sah ich ihn im Flur stehen bleiben. Ich versuchte nun nicht mehr, den Glanz von Julias Haar wiederzugeben, sondern beschränkte mich auf die Andeutung seiner Länge und Dichte und beendete dann zügig die Skizze.
    Aber die Technik, in der ich mich versuchte, erforderte mehr Zeit und Übung, als mir zur Verfügung stand; zwangsläufig wurde die Zeichnung in der Eile nicht so gut wie erhofft. Ich trat zurück, begutachtete sie, während sich die anderen um sie drängten, und alles, was man darüber sagen konnte, war, dass sie das Gesicht eines Mädchens zeigte, das schön war und langes Haar besaß. Irgendein Mädchen, nicht dieses besondere, obwohl es vage an Julia erinnerte.
    Aber Julia betrachtete das Bildnis einige Augenblicke, mir kam die Zeit ziemlich lang vor, dann rief sie mit unverhohlener Freude. »Oh, ist das schön!« Erfreut wandte sie sich mir zu. »Sehe ich wirklich so aus? Nein, natürlich nicht! Aber es ist schön! Großer Gott, Sie sind ja ausgesprochen talentiert!« Ihre Augen leuchteten, sie betrachtete mich nun mit wahrer Bewunderung, fast ehrfürchtig, was auf mich seinen Eindruck nicht verfehlte: in mir entzündete sich das Verlangen, sie zu küssen; ich musste mich zusammennehmen, sie nicht zu umarmen.

    Ihre Augen wanderten zur Tür. D hatte sie ihn bereits erblickt, und augenblicklich errötete ihr Gesicht. Ihre Stimme schien ruhig zu sein, vollkommen gelassen. »Jake, wir haben einen neuen Gast! Und zwar einen sehr talentierten, wie es scheint! Kommen Sie und schauen Sie sich an, was er …«
    »Stecken – Sie – Ihr – Haar – hoch«, stieß er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor, wobei er jedem Wort dieselbe kalte Betonung verlieh.
    »Aber Jake, wir …«
    Nun klang er

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