Zeitspuren: Mit einem Vorwort von Wolfgang Jeschke - Meisterwerke der Science Fiction (German Edition)
Eisschicht auf der Fensterscheibe. Eis oder Eisblumen auf einem Fenster hatte ich nicht mehr gesehen, seitdem ich als Kind auf das gefrorene Fenster der Farm meines Großvaters Buchstaben gemalt hatte. Im letzten lebenden Bild – Julia war eine unglücklich Liebende und saß traurig auf einer Bank – sah ich sie mir einen Blick zuwerfen; ich glaubte, ihre Gedanken lesen zu können: Ich war die einzige Person in diesem Raum, die nicht in der Lage gewesen war, einen Titel zu erraten, nicht einmal einen falschen hatte ich angeben können.
Byron schlug als Nächstes Scharaden vor; aus seinem Verhalten konnte ich schließen, dass er gut darin sein musste. Aber Felix – und ich vermutete sofort, er sei darin vielleicht nicht so gut – lehnte mit der Begründung ab, sie ähnelten zu sehr den tableaux vivants. Julia saß bei der Vitrine, betrachtete mich noch immer nachdenklich und sagte dann langsam: »Vielleicht unterhält uns Mr. Morley jetzt ein wenig. Jetzt sind Sie an der Reihe, Mr. Morley, abgemacht?« Die anderen unterstützten sie sofort, und ich nickte. Aus Julias Stimme glaubte ich einen herausfordernden Ton herauszuhören, als ob sie sagte: Wer sind Sie? Zeigen Sie auch einmal, was Sie können! Nun, das wollte ich, ich saß da und überlegte und spürte plötzlich Panik in mir aufsteigen. Ich sah zu Julia hinüber; sie wartete und lächelte ein wenig spöttisch.
Dann grinste ich sie an, ich hob meine Hände, die Handinnenflächen waren auf sie gerichtet, die beiden Daumen berührten sich und rahmten ihren Kopf und ihre Schultern ein. »Halten Sie bitte ganz still.« Ohne sich zu rühren, saß sie da, ihre Augen leuchteten plötzlich vor Interesse. »Drehen Sie ein wenig Ihren Kopf, nur ein wenig. Nein, in die andere Richtung, zur Vitrine hin.« Langsam drehte sie den Kopf, und als das Licht von dem über ihr hängenden Kronleuchter schräg auf ihr Gesicht fiel, es von der Seite beleuchtete und ihr Profil an die Wand hinter ihr warf, sagte ich: »Nicht bewegen, nicht atmen.« Ich hatte den Schlüssel für mein Dakota-Apartment in meiner Westentasche gefunden und kratzte mit dem Bart des Schlüssels in die dünne weiße Frostschicht auf dem Fensterglas den Umriss ihres Wangenknochens. Nach einem nochmaligen Blick auf Julia zeichnete ich dann in einer einzigen geschwungenen Linie ihren Kiefer. Die Umrisse waren gut zu sehen, die Schwärze der Nacht draußen ließ sie sich deutlich abzeichnen; ich arbeitete schnell. Alle anderen standen in respektvollem Abstand hinter und neben mir, um zuzusehen.
Die Zeichnung war gelungen; in weniger als zwei Minuten hatte ich die Ähnlichkeit eingefangen. Die hervorstechenden Wangenknochen, die etwas zu scharfe Kieferlinie, eine Andeutung des kleinen resoluten Kinns – alles war da, in nur drei schwungvollen Linien. Die Rundung der Augen, und sogar das war mir gelungen – der feine Schatten unter ihnen lag hier in einem sicheren Kratzer auf dem Weiß des Fensters. Ebenso die dunklen Brauen und die schöne gerade Nase. Ich nickte, gab Julia ein Zeichen, und sie kam zu uns herüber.
Es gefiel ihr nicht. Sie sagte es nicht, aber nach einigen sehr langen Augenblicken beugte sie sich nach vorne, um die Zeichnung genauer betrachten zu können, dann nickte sie und gab höflich vor, damit zufrieden zu sein. Ihr Nicken kam jedoch zu schnell, sie schaute mich nicht an, und ich wusste, dass sie ihre Enttäuschung verbarg. Auch die anderen murmelten nur höfliche Zustimmung. »Was stimmt daran nicht?«, fragte ich ruhig.
»Nichts!« Sie blickte nun zu mir her, in ihren Augen lag Überraschung über diese Frage. »Es ist schön! Ich bin erstaunt!«
Aber ich schüttelte den Kopf. Zeichnen war eine Fähigkeit, auf die ich stolz war, und ich wollte es genau wissen. »Nein, sagen Sie mir die Wahrheit. Sie können mich nicht täuschen; es gefällt Ihnen nicht.«
»Nun.« Sie setzte ein unbewegtes Gesicht auf und blickte zu Boden; einen Finger am Kinn, als denke sie nach; sie war verlegen. »Nicht, dass ich es nicht mag, aber …« Wieder blickte sie auf die Skizze, dann zu mir; es tat ihr leid, überhaupt etwas gesagt zu haben. »Aber was stellt es denn dar?«, platzte es aus ihr heraus. Schnell setzte sie hinzu: »Ich meine, es ist doch sicher noch nicht fertig, nicht wahr? Ich kann ein Gesicht erkennen, oder könnte es, wenn es fertig wäre, aber …« Ich nickte eifrig und schnitt ihr das Wort ab; nun verstand ich, was sie meinte. Von Kindesbeinen sind wir darauf trainiert,
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