Zeitspuren: Mit einem Vorwort von Wolfgang Jeschke - Meisterwerke der Science Fiction (German Edition)
dann war das Fest vorbei.
Oben in meinem Zimmer, während ich im Dunkeln mein Hemd aufknöpfte und in die Finsternis des Gramercy Parks hinabblickte, wusste ich, dass Rube, Oscar, Danziger und ich das Wichtigste nicht beachtet hatten: dass ein Zusammenleben mit anderen Menschen immer auch bedeutete, in die Ereignisse hineingezogen zu werden. Ich sollte hier nur den Beobachter spielen, der sich strikt heraushält, der sich nicht in die Ereignisse einmischt, geschweige denn welche ins Rollen bringt. Und dennoch hatte ich gerade das Gegenteil getan. Ich wollte mein Hemd ausziehen, ließ es dann aber und starrte regungslos auf einen Begrenzungspfosten, der mit Schnee bedeckt war. Ich hätte so schnell wie möglich von hier verschwinden sollen. Sofort packen, hinunterschleichen und hinaus, zurück zum Dakota, bevor noch größerer Schaden entstand.
Aber alles in mir schrie auf. Donnerstag! Morgen ist Donnerstag! Morgen, ›um halb eins‹, wie der Brief sagte, den Jake Pickering aufgegeben hatte, ›kommen Sie bitte in den City Hall Park‹. Ich musste dort sein, ich musste einfach. Mich auf irgendeine Weise unsichtbar machen, mich auf keinen Fall einmischen – aber ich musste dort sein. Nur noch einen Tag, einen halben Tag länger!, sagte ich zu mir selbst. Wenigstens noch diese wenigen Stunden konnte ich doch wohl in die Rolle des Beobachters schlüpfen! In dem schwachen Licht, das vom Schnee draußen reflektiert wurde, betrachtete ich meine Hand und verglich sie mit der anderen; die rechte Hand war angeschwollen, die Knöchel aller vier Finger pochten heftig. Ich starrte sie an, streckte die Finger und versuchte sie zu einer Faust zu schließen. Ich konnte es nicht, aber während ich es versuchte, trat ein Bild vor mein geistiges Auge, in dem diese Faust Pickering ins Gesicht schlug.
Ich musste innerlich darüber lachen und ließ die Hand wieder sinken; ich war doch etwas beunruhigt. Aber ich brauchte Pickering morgens ja nicht zu begegnen. Ich konnte so lange in meinem Zimmer bleiben, bis er das Haus verlassen hatte, um ihm dann niemals wieder unter die Augen zu treten. Und Julia – nun, was war mit Julia? Doch ich konnte nur hilflos den Kopf schütteln; in gewisser Weise war ich nicht mehr in der Lage, die Situation zu analysieren; ich war bereits zu sehr in sie eingebunden. Aber auf der anderen Seite würde das nichts machen, denn wir stammten aus unterschiedlichen Zeiten, und ich würde diese hier bald wieder verlassen.
Doch ich probierte etwas anderes; ich dachte über Kate nach, stand dort in der Dunkelheit und überprüfte meine Gefühle zu ihr. Nichts hatte sich geändert. Sobald ich wieder zurückgekehrt war, wollte ich sie sehen; ich verspürte Erleichterung und machte mir dann darüber Gedanken. Schließlich wandte ich mich vom Fenster ab, knöpfte das Hemd auf – nur den oberen Teil, unten war das Hemd wie ein T-Shirt geschlossen –, zog mich ganz aus und schlüpfte in mein Nachtgewand. Als ich im Bett lag, lächelte ich: was für ein Tag. Eine Minute später schlief ich ein in dem Bewusstsein, dass es zwar ein schrecklicher Fehler war hier zu bleiben, aber dass ich es trotzdem tun würde. Ich wollte sehen, was im City Hall Park am Donnerstag, dem 26. Januar 1882, um halb eins – morgen – passierte.
13
Am nächsten Morgen nahm ich mein Frühstück alleine ein; alle anderen Pensionsgäste hatten bereits das Haus verlassen. Ich war mit gespitzten Ohren im Bett liegen geblieben und hatte mitgezählt, als sie in kurzen Abständen die Treppe hinuntergegangen waren. Dann hatte ich mich angezogen und am Fenster so lange gewartet, bis ich sehen konnte, dass auch Jake Pickering das Haus verließ.
Als ich den Salon betrat, bemerkte ich, dass schon frisch staubgewischt und geputzt worden war; ich warf einen prüfenden Blick zu den Fenstern hinüber. Selbst die Fenster schienen geputzt worden zu sein; die gestrige Eisschicht und die Zeichnungen waren vollkommen verschwunden, und auf dem Glas bildete sich gerade eine neue Reifschicht. Als ich mich zum Esszimmer wandte, fragte ich mich wieder, ob ich die Probleme vom Vorabend hätte vermeiden können. Aber das schien mir unmöglich, und nun, bei Tageslicht, sah alles weniger schlimm aus, als ich befürchtet hatte. Jemand, der auf einen völlig bedeutungslosen Fremden so eifersüchtig reagierte, hatte schon früher so reagiert und würde es auch in Zukunft wieder tun. Ich hatte doch nicht in die Vergangenheit eingegriffen; etwas in dieser Art wäre
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