Zeitspuren: Mit einem Vorwort von Wolfgang Jeschke - Meisterwerke der Science Fiction (German Edition)
betrachtete mein Gesicht. Es schien voller Freude und Aufregung zu sein – Gefühl ignorierte Logik –, und ich zuckte die Schultern. Die Ereignisse hatten mich einfach aufgenommen und weitergetragen; und wenn ich schon nichts dagegen tun konnte, dann wollte ich es auch richtig genießen.
Julia wartete in der Diele; sie trug einen geblümten Hut, dessen Bänder unter dem Kinn gebunden waren, einen dunkelgrünen Mantel und ein kurzes schwarzes Schultercape; ein kleiner schwarzer Pelzmuff baumelte an ihrem Handgelenk. Als sie mich kommen hörte, blickte sie auf; sie sah großartig aus. Ich konnte nicht anders als töricht grinsen und den Kopf über mich schütteln.
Der Herr mag uns beistehen – was hat New York über die Jahre hinweg nicht alles verloren! Wir gingen nach Norden zur 22nd Street. Julia war aufgeregt, weil sie mir die Stadt zeigte und genoss es sichtlich; ich fühlte mich gerührt, sie schien so unschuldig. An der 23rd bogen wir nach Westen zum Madison Square und dem Fifth Avenue Hotel ab, das einige Blocks weiter am Broadway und der 5th Avenue stand, dem Anfang, wie Julia es genannt hatte, der ›Ladies’ Mile‹. Plötzlich rief ich unwillkürlich »Oh!« – ein Ausruf reinster Freude; Julia schaute mich forschend an und lächelte über die beabsichtigte Wirkung.
Für mich, der ich in New York City arbeite und wohne, hatte der Madison Square keine besondere Bedeutung; eine im Sommer von der Sonne ausgetrocknete, mit braunem Gras bewachsene Ödnis mit Parkbänken und kleinen Wegen, die sich nur mittags mit Büroangestellten füllte, die versonnen ihr Essen aus Papiertüten zu sich nahmen, für die übrige Zeit aber bis auf einige Penner verlassen war. Im Winter war er noch verdreckter, leerer und noch verlassener und wurde in der Nacht wie jeder andere Park in New York automatisch gemieden. Wenn überhaupt, dann war er wenigstens eine Abwechslung inmitten all der engen korridorähnlichen Straßen zwischen den hohen Gebäuden. Er schien keine andere Bedeutung oder anderen Zweck zu haben: er war ein heruntergekommener, freudloser Ort.
Jetzt aber entfuhr mir bei seinem Anblick ein Schrei reinen Entzückens: der Platz war voller Leben. Unter den winterlichen Bäumen und den noch immer brennenden Gaslaternen spielten zahllose Kinder: Mädchen in Hauben und Schals, Jungen in kleinen eckigen Lammwollkappen mit Ohrenschützern; Jungen und Mädchen in troddelbesetzten Schottenmützen mit Bändern, die über den Nacken fielen; Jungen in kleinen Anzügen mit dicken Schals um den Hals; Mädchen in langen Pelzmänteln; alle trugen Stiefel, die Hälfte der Mädchen geringelte Strümpfe, einige von ihnen kleine Muffs. Befremdliche Winterkleidung, aber sie waren trotzdem tobende Kinder im Schnee, die rannten, hinfielen, sich schubsten, Schneebälle formten und einander auf hohen Holzschlitten zogen, deren Kufen zu anmutig geschwungenen Vogelkopfornamenten ausliefen, oder bäuchlings auf niedrigen Rennschlitten lagen. Auf den Wegen spazierten Kindermädchen in schwesternähnlicher Kleidung und schoben Kinderwagen mit großen Rädern aus Holzspeichen. Und Erwachsene schlenderten, sie schlenderten wirklich über den Madison Square, durch den Schnee, den Winter, einfach aus Lust daran, als ob allein die Tatsache, im Freien sein zu können, ihnen Vergnügen bereitete. Hunde bellten, tollten herum, rutschten und überschlugen sich, schnappten aufgeregt nach der Winterluft oder nach dem Schnee. Und über diesen lebendigen, lebhaften Platz rollte die glitzerndste Kutschenparade, die man sich vorstellen konnte.
Die Kutschen waren nicht nur schwarz. Wunderbare kastanienbraune Exemplare waren darunter, tief olivgrüne, eine besaß sogar eine kanariengelbe Karosserie, Räder und Radabdeckungen waren glänzend schwarz. Die meisten waren geschlossen, einige wenige aber waren tatsächlich offen, und Julia benannte sie mit klingenden Namen wie Victoria, fünffenstriger Landauer, Barouche, Phaeton und Light Rockaway. Livrierte Männer lenkten sie, ihre Zylinder sammelten und reflektierten das Licht; polierte Stiefel und weiße Hosen kamen unter Mänteln mit silbernen Knöpfen zum Vorschein, deren Farbe manchmal mit der der Kutschen abgestimmt war. Auf vielen von ihnen saß hinten auf der Kutsche ein Paar Bediensteter, die Arme verschränkt, lächerlich in ihrer ganzen Pracht.
Und die Pferde tänzelten; sie waren schlank und wunderbar anzusehen, ihre Körper und das Zaumzeug schimmerten seidig, die Köpfe mit der
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