Zelot
königlich, der andere priesterlich –, während die meisten Juden sich einen Messias mit einer Kombination beider Züge wünschten. Doch unabhängig davon scheint es unter der jüdischen Volksmenge, die sich zum Laubhüttenfest versammelt hatte, einen klaren Konsens darüber zu geben, wer der Messias sein soll und was der Messias tun soll: Er ist der Nachfahr König Davids; er kommt, um Israel wieder aufzurichten, um die Juden vom Joch der Fremdherrschaft zu befreien und um Gottes Herrschaft in Jerusalem einzusetzen. Wenn man also Jesus den Messias nennt, setzt man ihn unerbittlich auf einen Weg – einen Weg, den schon zahlreiche gescheiterte Messiasse vor ihm eingeschlagen haben und der auf Konflikt, Revolution und Krieg gegen die herrschenden Mächte ausgerichtet ist. Wohin dieser Weg letztlich führen würde, konnte niemand der bei diesem Fest Anwesenden mit Bestimmtheit sagen. Aber man wusste so ungefähr, wo er beginnen musste.
«Sagt nicht die Schrift: Der Messias kommt aus dem Geschlecht Davids», fragt jemand in der Menge, «und aus dem Dorf Betlehem, wo David lebte?»
«Aber von dem hier wissen wir, woher er stammt», wendet ein anderer ein. Tatsächlich scheinen die Leute Jesus gut zu kennen. Sie kennen seine Brüder, die mit ihm da sind. Seine ganze Familie ist da. Sie sind zusammen aus ihrer Heimat in Galiläa zu diesem Fest gereist. Aus Nazaret.
«Lies doch nach», sagt ein Pharisäer mit der Selbstsicherheit eines Mannes, der sich ein Leben lang intensiv mit den Schriften befasst hat. «Der Prophet kommt nicht aus Galiläa.»
Jesus widerspricht nicht. «Ihr kennt mich», räumt er ein, «und wisst, woher ich bin.» Aber er umgeht die Frage seiner irdischen Heimat völlig und betont stattdessen seine himmlische Abstammung: «Ich bin nicht in meinem eigenen Namen gekommen, sondern er, der mich gesandt hat, bürgt für die Wahrheit. Ihr kennt ihn nur nicht. Ich kenne ihn, weil ich von ihm komme und weil er mich gesandt hat.» (Joh 7 , 1 – 29 )
Solche Aussagen finden sich immer wieder bei Johannes, dem letzten der vier kanonisierten Evangelien, das zwischen 100 und 120 n. Chr. entstand. Johannes zeigt überhaupt kein Interesse an Jesu leiblicher Geburt, obwohl selbst er anerkennt, dass Jesus ein «Nazoräer» war (Joh 18 , 5 – 7 ). In Johannes’ Sicht ist Jesus ein ewiges Wesen, der
logos,
der vom Anbeginn der Zeiten bei Gott war, die Urkraft, durch die alle Schöpfung entstand und ohne die nichts entstand (Joh 1 , 3 ).
Ein ähnliches Desinteresse an der irdischen Herkunft Jesu findet sich im ersten, dem Markus-Evangelium, das kurz nach 70 n. Chr. entstand. Markus konzentriert sich voll und ganz auf Jesu Wirken; weder Jesu Geburt noch, vielleicht überraschend, dessen Auferstehung spielen für ihn eine Rolle – er lässt beides ganz außen vor.
Die ersten Christen scheinen sich über das Leben Jesu vor dem Beginn seines öffentlichen Wirkens keine besonderen Gedanken gemacht zu haben. Auffällig ist das Fehlen von Geschichten über seine Geburt und Kindheit in den frühesten Texten. Das Material der Logienquelle Q, das um 50 n. Chr. zusammengestellt wurde, setzt erst mit Jesu Taufe durch Johannes den Täufer ein. Die Paulusbriefe, die einen großen Teil des Neuen Testaments bilden, stehen den Ereignissen in Jesu Leben, abgesehen von seiner Kreuzigung und Auferstehung, gleichgültig gegenüber (immerhin erwähnt Paulus das Letzte Abendmahl).
Doch als das Interesse an der Person Jesu nach seinem Tod wuchs, verspürten einige Christen die dringende Notwendigkeit, die Lücken seiner frühen Jahre zu füllen und vor allem die Sache mit seiner Geburt in Nazaret anzusprechen, die seine jüdischen Kritiker offenbar als Beweis dafür anführten, dass Jesus nicht der Messias gewesen sein konnte, jedenfalls nicht, wenn man die Prophezeiungen ernst nahm. Irgendeine kreative Lösung musste her, um diese Kritik zurückzuweisen, ein Kniff, um Jesu Eltern nach Betlehem zu bringen, sodass er in derselben Stadt wie David geboren werden konnte.
Für Lukas liegt die Antwort in einer Volkszählung, einem Zensus. Er schreibt: «In jenen Tagen erließ Kaiser Augustus den Befehl, alle Bewohner des Reiches in Steuerlisten einzutragen. Dies geschah zum ersten Mal; damals war Quirinius Statthalter von Syrien. Da ging jeder in seine Stadt, um sich eintragen zu lassen. So zog auch Josef von der Stadt Nazaret in Galiläa hinauf nach Judäa in die Stadt Davids, die Betlehem heißt.» Für die ganz
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