Zelot
Begriffsstutzigen fügt er noch an: «Denn er war aus dem Haus und Geschlecht Davids.» (Lk 2 , 1 – 4 )
Lukas hat mit einer Sache recht, aber wirklich nur mit einer. Zehn Jahre nach dem Tod Herodes des Großen, im Jahr 6 n. Chr., als Judäa offiziell römische Provinz wurde, organisierte der syrische Statthalter Quirinius einen Zensus aller Menschen, Besitztümer und Sklaven in Judäa, Samarien und Idumäa – nicht «aller Bewohner des Reiches», wie Lukas behauptet, und ganz sicher nicht in Galiläa, wo Jesu Familie lebte (Lukas liegt auch falsch, wenn er Quirinius’ Zensus im Jahr 6 n. Chr. mit der Geburt Jesu in Verbindung bringt, die die meisten Gelehrten eher in die Zeit um 4 v. Chr. datieren, das Jahr, das auch das Matthäus-Evangelium angibt). Wie auch immer – da der einzige Zweck eines solchen Zensus die Besteuerung war, bewertete das römische Recht den Besitz eines Menschen an seinem Wohnort, nicht an seinem Geburtsort. In keinem römischen Beleg aus der Zeit (und die Römer waren ziemlich penibel, vor allem, wenn es um die Besteuerung ging) findet man anderslautende Hinweise. Lukas’ Vorstellung, dass die ganze römische Wirtschaft regelmäßig ruhte, während jeder römische Untertan gezwungen wurde, mit seiner ganzen Familie große Entfernungen zu seinem Geburtsort zurückzulegen und dort dann geduldig, vielleicht monatelang, zu warten, bis ein Beamter seine Familie und seinen Besitz schätzte, den er sowieso an seinem Wohnort zurückgelassen hatte, ist, in einem Wort zusammengefasst, absurd.
Man muss sich vor Augen halten, dass Lukas’ Leser, die ja immer noch unter römischer Herrschaft lebten, genau wussten, wie ungenau seine Schilderung des Zensus unter Quirinius war. Lukas selbst, der wenig mehr als eine Generation nach den Ereignissen, die er schildert, schrieb, war sich des Fehlers bewusst. Moderne Leser der Evangelien können dies nur sehr schwer verstehen, aber Lukas wollte seinen Bericht über Jesu Geburt in Betlehem nie als historisches Faktum verstanden wissen. Lukas hätte überhaupt keine Vorstellung davon, was wir in der modernen Welt überhaupt meinen, wenn wir von «Geschichtsschreibung» sprechen. Die Idee von Geschichtsschreibung als einer kritischen Analyse beobachtbarer und verifizierbarer Ereignisse in der Vergangenheit ist ein Produkt der Moderne; den Autoren der Evangelien, denen es bei der Niederschrift der Geschichte nicht darum ging,
Fakten
aufzudecken, sondern
Wahrheiten
zu enthüllen, war dieses Konzept völlig fremd.
Die Leser des Lukas-Evangeliums trennten wie die meisten Menschen in der antiken Welt nicht scharf zwischen Mythos und Realität; in ihrer spirituellen Erfahrung war beides eng miteinander verbunden. Das soll heißen, dass sie weniger an dem interessiert waren, was tatsächlich geschah, als vielmehr daran, was es bedeutete. Es war für einen Autor in der antiken Welt völlig normal – ja man erwartete es sogar von ihm –, dass er Geschichten über Götter und Helden erzählte, deren fundamentale Fakten man als falsch erkannte, deren tiefere Botschaft man jedoch als wahr ansah.
So ist auch Matthäus’ ebenso phantasievoller Bericht über Jesu Flucht nach Ägypten zu erklären, die angeblich stattfand, um dem Massaker zu entgehen, das Herodes in der fruchtlosen Suche nach dem kleinen Jesus an allen Jungen, die in und um Betlehem zur Welt gekommen waren, verübte – ein Ereignis, für das nicht die Spur eines Beweises in irgendeiner Chronik oder einem Geschichtswerk, sei es jüdisch, christlich oder römisch, zu finden ist. Das ist durchaus bemerkenswert, wenn man bedenkt, wie viele Chroniken und Erzählungen über Herodes den Großen geschrieben wurden, der trotz allem als der berühmteste Jude im ganzen Römischen Reich galt (schließlich war er kein Geringerer als der König der Juden!).
Wie Lukas’ Beschreibung des Zensus sollte auch Matthäus’ Bericht über den von Herodes befohlenen Kindermord nicht als das gelesen werden, was wir heute
Geschichtsschreibung
nennen, vor allem nicht von seiner eigenen Gemeinschaft, die sich doch sicher an ein so unvergessliches Ereignis wie ein Massaker an den eigenen Söhnen erinnert hätte. Aus Matthäus’ Sicht musste Jesus aus Ägypten kommen, aus eben dem Grund, aus dem er auch in Betlehem geboren sein musste: um die verstreuten Prophezeiungen zu erfüllen, die seine Vorfahren ihm und seinen jüdischen Glaubensbrüdern zum Entschlüsseln hinterlassen hatten, um Jesus in die Fußstapfen
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