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Zelot

Zelot

Titel: Zelot Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Reza Aslan
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Vierte Philosophie
    Eines wissen wir über Nazaret zur Zeit von Jesu Geburt: Für einen Zimmermann gab es dort wenig zu tun. Und Jesus war der Überlieferung nach ein
tekton
– ein Zimmermann oder Bauarbeiter –, wobei man allerdings sagen muss, dass diese Aussage nur in einem Vers im ganzen Neuen Testament zu finden ist (Mk  6 , 3 ). Wenn sie stimmt, dann hätte Jesus als Handwerker und Tagelöhner der untersten Schicht der bäuerlichen Bevölkerung im Palästina des 1 . Jahrhunderts angehört, knapp über dem Bedürftigen, dem Bettler und dem Sklaven. Die Römer verwendeten den Begriff
tekton
umgangssprachlich für jeden ungebildeten oder analphabetischen Kleinbauern, und Jesus war sehr wahrscheinlich beides.
    Die Analphabetenrate in Palästina war im 1 . Jahrhundert unglaublich hoch, besonders unter der ärmeren Bevölkerung. Man schätzt, dass fast 97  Prozent der jüdischen Bauern weder lesen noch schreiben konnten, eine nicht ungewöhnliche Quote in vorwiegend oralen Kulturen wie jener, in der Jesus lebte. Sicher spielten die Hebräischen Schriften eine wichtige Rolle im Leben des jüdischen Volkes, doch die weit überwiegende Mehrheit der Juden zur Zeit Jesu konnte wohl nur sehr wenig Hebräisch, kaum genug, um die Schriften zu verstehen, wenn sie in der Synagoge vorgelesen wurden. Hebräisch war die Sprache der Schrift- und Rechtsgelehrten – die Bildungssprache. Für Bauern wie Jesus war es sicher enorm schwierig, sich auf Hebräisch, selbst in seiner umgangssprachlichen Form, verständlich zu machen. Deshalb waren auch die meisten Schriften ins Aramäische übersetzt worden, die Muttersprache der jüdischen Bauern: die Sprache Jesu. Möglicherweise konnte Jesus ein paar Brocken Griechisch, die
lingua franca
des Römischen Reiches (ironischerweise war Latein die Sprache, die in den von Rom besetzten Ländern am seltensten Verwendung fand), vielleicht genug, um Verträge auszuhandeln und mit Kunden zu sprechen, aber sicher nicht genug, um zu predigen. Die einzigen Juden, die problemlos auf Griechisch kommunizieren konnten, waren die Angehörigen der hellenisierten herodianischen Elite, der Priesteradel in Judäa und die gebildeteren Juden in der Diaspora, nicht aber die Kleinbauern und Tagelöhner Galiläas.
    Unabhängig davon, welche Sprachen Jesus wohl gesprochen haben mag – es gibt keinen Grund anzunehmen, dass er auch nur eine von ihnen lesen oder schreiben konnte, nicht einmal Aramäisch. Lukas’ Bericht über den zwölfjährigen Jesus, der in Jerusalem im Tempel steht und mit Rabbinen und Schriftgelehrten über die Feinheiten der Hebräischen Schriften diskutiert (Lk  2 , 42 – 52 ), oder seine Erzählung über Jesus in der (nicht vorhandenen) Synagoge von Nazaret, der zum Erstaunen der Pharisäer aus der Jesaja-Rolle liest (Lk  4 , 16 – 22 ), sind phantasievolle Ausschmückungen des Evangelisten. Jesus hatte sicher keinen Zugang zu der Art formeller Bildung, die notwendig wäre, um Lukas’ Schilderung auch nur entfernt glaubhaft klingen zu lassen. Es gab keine Schulen in Nazaret, die Bauernkinder hätten besuchen können. Welche Ausbildung Jesus auch erhalten haben mag – sie entsprang jedenfalls direkt seiner Familie und konzentrierte sich in Anbetracht seines Status als Handwerker und Tagelöhner wohl fast ausschließlich darauf, dass er das Handwerk seines Vaters und seiner Brüder erlernte.
    Dass Jesus tatsächlich Brüder hatte, ist trotz des katholischen Dogmas von der ewigen Jungfräulichkeit seiner Mutter Maria eigentlich unbestreitbar. Die Evangelien wie auch die Paulusbriefe bezeugen diese Tatsache an mehreren Stellen. Selbst Josephus erwähnt Jesu Bruder Jakobus, der nach Jesu Tod der wichtigste Anführer der frühchristlichen Kirche werden sollte. Es gibt keinen rationalen Einwand gegen die Vorstellung, dass Jesus Teil einer großen Familie war, zu der wenigstens vier Brüder gehörten, die in den Evangelien genannt werden – Jakobus, Josef (Joses), Simon und Judas –, sowie eine unbekannte Zahl von Schwestern, die zwar erwähnt, aber leider nicht mit Namen aufgeführt werden.
    Weit weniger weiß man über Jesu Vater, Josef, der nach den Kindheitserzählungen schnell aus den Evangelien verschwindet. Man geht allgemein davon aus, dass Josef starb, als Jesus noch ein Kind war. Eine These lautet aber auch, dass es ihn nie gegeben hat, dass er eine Erfindung von Matthäus und Lukas war – den einzigen beiden Evangelisten, die ihn erwähnen –, um eine weitaus

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