Zelot
umstrittenere Erfindung zu rechtfertigen: die jungfräuliche Geburt.
Einerseits verweist die Tatsache, dass Matthäus wie auch Lukas in ihren jeweiligen Kindheitserzählungen von der jungfräulichen Geburt berichten, obwohl sie doch, wie man glaubt, überhaupt nichts vom Werk des jeweils anderen wussten, darauf, dass die Geschichte von der Jungfrauengeburt sehr früh aufkam, vielleicht noch vor der Entstehung des ersten, des Markus-Evangeliums. Andererseits wird die jungfräuliche Geburt Jesu außerhalb der Kindheitserzählungen bei Matthäus und Lukas von niemandem im Neuen Testament auch nur erwähnt: nicht vom Evangelisten Johannes, der Jesus als einen Geist aus dem Jenseits ohne irdische Abstammung präsentiert, und auch nicht von Paulus, der Jesus als buchstäblich fleischgewordenen Gott sieht. Dieses Fehlen hat unter den Fachleuten zu Spekulationen Anlass gegeben, ob nicht vielleicht die Geschichte der Jungfrauengeburt erfunden worden sein könnte, um eine unbequeme Wahrheit in bezug auf Jesu Abstammung zu vertuschen – dass er nämlich ein uneheliches Kind war.
Im Grunde haben die Gegner der Jesus-Bewegung dieses Argument schon seit dem ersten Tag angeführt. Der Philosoph Kelsos erzählt im 2 . Jahrhundert eine Geschichte, die er angeblich von einem palästinischen Juden gehört hatte: Jesu Mutter sei von einem Soldaten namens Panthera geschwängert worden. Kelsos’ Geschichte hat so eindeutig eine polemische Stoßrichtung, dass man sie nicht ernst nehmen kann, aber sie zeigt, dass nicht einmal 100 Jahre nach Jesu Tod Gerüchte über seine uneheliche Geburt überall in Palästina die Runde machten. Und sie kursierten vielleicht schon zu Lebzeiten Jesu. Als Jesus anfängt, in seinem Heimatort Nazaret zu predigen, sieht er sich mit dem Getuschel der Nachbarn konfrontiert, von denen einer frei heraus fragt: «Ist er nicht … Marias Sohn?» (Mk 6 , 3 ). Dies ist eine erstaunliche Aussage, die man nicht so einfach vom Tisch wischen kann. Einen erstgeborenen jüdischen Mann in Palästina mit dem Namen seiner Mutter zu bezeichnen – also als Jesus
bar Maria
statt als Jesus
bar Josef
– ist nicht nur ungewöhnlich, es ist eine Ungeheuerlichkeit. Im besten Fall ist es eine absichtliche Beleidigung mit einer so offensichtlichen Anspielung, dass man sich bei späteren Redaktionen des Markus-Evangeliums gezwungen sah, die Worte «Sohn des Zimmermanns und der Maria» in den Vers einzuschieben.
Noch umstrittener ist das Geheimnis um den Familienstand Jesu. Es gibt im Neuen Testament zwar keinen Hinweis darauf, ob Jesus verheiratet war oder nicht, aber es wäre für einen 30 -jährigen Mann zur Zeit Jesu so gut wie undenkbar gewesen, keine Ehefrau zu haben. Ehelosigkeit war ein extrem seltenes Phänomen im Palästina des 1 . Jahrhunderts. Eine Handvoll Sekten wie die schon genannten Essener und eine andere, die Therapeuten, praktizierten die Ehelosigkeit, aber das waren quasimönchische Orden; sie verweigerten nicht nur die Ehe, sie sagten sich völlig von der Gesellschaft los. Davon kann bei Jesus nicht die Rede sein. Doch so verlockend die Annahme auch sein mag, dass Jesus verheiratet war, man muss akzeptieren, dass nirgendwo in all den Texten, die je über Jesus von Nazaret geschrieben wurden – von den kanonischen über die gnostischen Evangelien bis hin zu den Paulusbriefen oder selbst zu den jüdischen und heidnischen Polemiken gegen ihn –, jemals eine Frau oder Kinder erwähnt werden.
Letztendlich ist es schlicht unmöglich, viel über das frühe Leben Jesu in Nazaret zu sagen, weil es, bevor Jesus zum Messias ausgerufen wurde, egal war, wie die Kindheit eines jüdischen Kleinbauern aus einem unbedeutenden Weiler in Galiläa ausgesehen hatte. Nachdem Jesus zum Messias erklärt worden war, interessierten nur die Aspekte seiner Kindheit, die man kreativ so umdeuten konnte, dass sie jedwede theologische Aussage stützten, die man über Jesu Identität als Christus machen wollte. Wie dem auch sei, der einzige Zugang zum realen Jesus ergibt sich nicht aus den Geschichten, die nach seinem Tod über ihn erzählt wurden, sondern vielmehr aus den paar vereinzelten Fakten, die wir über sein Leben als Teil einer großen jüdischen Familie von Zimmerleuten/Bauarbeitern, die in dem kleinen galiläischen Dorf Nazaret ums Überleben kämpft, sammeln können.
Das Problem für Zimmerleute bzw. Bauarbeiter mit Nazaret ist, dass es ein Ort aus Lehmziegeln war. Falls es irgendwelche aufwendigeren Gebäude gab,
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