Zelot
Plünderung Jerusalems war das Christentum keine winzige jüdische Sekte in einem vorwiegend jüdischen Land umgeben von Hunderttausenden Juden mehr. Nach 70 n. Chr. verschob sich das Zentrum der christlichen Bewegung vom jüdischen Jerusalem hin zu den griechisch-römischen Städten des Mittelmeerraums: Alexandria, Korinth, Ephesus, Damaskus, Antiochia, Rom. Eine Generation nach der Kreuzigung Jesu hatte er weit mehr nichtjüdische Anhänger als jüdische. Gegen Ende des 1 . Jahrhunderts, als die Mehrzahl der Evangelien geschrieben wurde, war Rom – und vor allem die römische intellektuelle Elite – zum vorrangigen Ziel der christlichen Verkündigung geworden.
Um dieses besondere Publikum zu erreichen, brauchten die Evangelisten einiges an Kreativität. Nicht nur mussten alle Spuren revolutionären Eifers aus dem Leben Jesu getilgt werden – die Römer mussten völlig von jeder Verantwortung für Jesu Tod freigesprochen werden.
Es waren die Juden, die den Messias töteten
. Die Römer waren ahnungslose Bauern im Spiel des Hohepriesters Kajaphas, der Jesus unbedingt tot sehen wollte, aber nicht über die rechtlichen Mittel dazu verfügte. Der Hohepriester verleitete den römischen Statthalter Pontius Pilatus zu einem tragischen Fehlurteil. Der arme Pilatus versuchte alles, um Jesus doch noch zu retten, aber die Juden wollten Blut sehen. Sie ließen Pilatus keine andere Wahl, als ihnen Jesus zur Kreuzigung auszuliefern. Je mehr Zeit bei der Abfassung jedes weiteren Evangeliums seit 70 n. Chr. und der Zerstörung Jerusalems verstrichen ist, desto unbeteiligter und obskurer wird Pilatus’ Rolle bei Jesu Tod.
Das Matthäus-Evangelium, geschrieben in Damaskus etwa 20 Jahre nach dem Jüdischen Aufstand, malt das Bild eines Pontius Pilatus, der sich alle Mühe gibt, Jesus wieder auf freien Fuß zu setzen. Nachdem seine Ehefrau ihn gewarnt hat, lieber die Hände von diesem Mann zu lassen, weil er unschuldig sei, und er erkannt hat, dass die religiösen Obrigkeiten ihm Jesus «nur aus Neid» ausliefern, wäscht Matthäus’ Pilatus seine Hände buchstäblich in Unschuld an Jesu Tod. «Ich bin unschuldig am Blut dieses Menschen», erklärt er den Juden. «Das ist eure Sache!»
Bei Matthäus, der Markus nacherzählt, antwortet «das ganze Volk» – also die ganze jüdische Nation
(pas ho laos)
–, dass es die Schuld am Tod Jesu von diesem Tag bis ans Ende der Zeiten auf sich nehmen werde: «Sein Blut komme über uns und unsere Kinder!» (Mt 27 , 1 – 26 )
Lukas, der in der griechischen Stadt Antiochia etwa zur selben Zeit wie Matthäus schreibt, bestätigt nicht nur Pilatus’ Schuldlosigkeit an Jesu Tod; er dehnt diese Amnestie ganz unerwartet auch auf Herodes Antipas aus. Die Abschrift des Markus-Evangeliums, die Lukas vorliegt, schildert, wie Pilatus die obersten Priester, die religiösen Führer und das Volk für die Anschuldigungen, die sie gegen Jesus erheben, heftig kritisiert. «Ihr habt mir diesen Menschen hergebracht und behauptet, er wiegle das Volk auf. Ich selbst habe ihn in eurer Gegenwart verhört und habe keine der Anklagen, die ihr gegen diesen Menschen vorgebracht habt, bestätigt gefunden, auch Herodes nicht, denn er hat ihn zu uns zurückgeschickt. Ihr seht also: Er hat nichts getan, worauf die Todesstrafe steht.» (Lk 23 , 13 – 15 ) Nachdem er
drei Mal
versucht hat, die Juden von ihrer Mordlust abzubringen, beugt sich Pilatus schließlich widerstrebend ihren Forderungen und übergibt Jesus, damit er gekreuzigt wird.
Es kann kaum überraschen, dass das letzte der kanonisierten Evangelien schließlich die Fiktion von Pilatus’ Unschuld – und von der Schuld der Juden – auf die Spitze treibt. Im Johannes-Evangelium, geschrieben irgendwann nach 100 n. Chr. in Ephesus, tut Pilatus alles in seiner Macht Stehende, um das Leben dieses armen jüdischen Bauern zu retten, nicht weil er glaubt, dass Jesus unschuldig ist, sondern weil er offenbar glaubt, dass Jesus tatsächlich der «Sohn Gottes» sein könnte. Doch nachdem er sich bei den jüdischen Obrigkeiten ebenso entschieden wie vergeblich dafür eingesetzt hat, Jesus freizulassen, wird der gnadenlose Präfekt, der ganze Legionen unter seinem Kommando hat und sie regelmäßig in die Straßen Jerusalems schickt, um die Juden abzuschlachten, wann immer sie gegen eine seiner Entscheidungen protestieren (etwa, als sie etwas gegen seine Plünderung des Tempelschatzes einzuwenden hatten, um die neuen Aquädukte Jerusalems zu
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