Zeltplatz Drachenloch
Wettersteins hoch. Dort drüben sollte es die Gemsen geben.
»Da, sie kommen schon«, rief der Hirt aus der Hütte Immerfroh zu. »Links oben auf der großen Halde sind sie ganz deutlich zu sehen. Drei Stück.«
Tatsächlich! Man konnte sie sehen. Immerfroh stellte sein Fernglas ein. Es waren wirklich Gemsen .
Nun ging das Fernglas von Hand zu Hand.
»Noch zwei«, riefen die Buben. »Jetzt sind es schon sieben, und jetzt zwei kleine .« Schließlich waren es zwölf Gemsen . Sie gingen langsam quer über die große Halde. Drüben, auf der rechten Seite, begann Latschengestrüpp, und dort tauchten sie unter. Uber eine halbe Stunde konnten sie die Gemsen , dieses scheue Wild, beobachten. Sie bekamen ganz heiße Wangen davon.
Als die letzte Gemse im Latschengestrüpp verschwunden war, rief Immerfroh zum Aufbruch.
»Jetzt müßt ihr euch zusammennehmen«, sagte er, »jetzt geht es noch ein Stück steil bergan, dann kommt der Kamin, und nach dem Kamin haben wir’s geschafft. Dann geht es bald wieder in den Wald hinein, und von dort haben wir nur noch eine Stunde nach St. Georgen hinunter .«
Die Nachmittagssonne brannte auf den baumlosen Steilhang, den sie nun bergan stiegen. Sie mußten sehr vorsichtig gehen, um keine Steine ins Rollen zu bringen. Ab und zu hielten sie kurz an, um wieder ein wenig zu Atem zu kommen. Die Almhütte, bei der sie zu Mittag gewesen waren, lag nun wie eine Streichholzschachtel unter ihnen, und die Kühe waren weißbraune Tupfen auf dem Grün der Wiese.
»Spaziergang ist das keiner«, schnaufte Kores. Er hatte einen roten Kopf, der von Schweiß glänzte.
Der kleine Willi fluchte innerlich. Wäre er doch nur daheimgeblieben, statt hier sein Leben aufs Spiel zu setzen ! Es muß nämlich gesagt werden: Willi hatte Angst vor dem Kamin. Willi stellte sich einen Kamin und die Kletterei darin ungeheuer gefährlich vor.
Immerfroh ließ wieder anhalten. Er war bis jetzt am Ende der lang auseinandergezogenen Reihe gegangen. Jetzt ging er vor.
»Seht euch einmal um !« sagte er zu den Buben.
Und das lohnte sich. Bisher hatte keiner geglaubt, daß es in den Alpen so viele Bergspitzen und -kuppen geben könnte. Von hier aus sahen die Gebirgszüge wie ein großes, auf und ab wogendes Meer aus Stein aus. Schnee leuchtete von vielen Gipfeln.
Georgs Mund war mit einemmal trocken. Seine Zunge klebte am Gaumen, und er konnte nur mit Mühe atmen. »Es ist nicht gefährlich«, beruhigte Immerfroh die Bubenschar. »Der Kamin ist durch ein Stahlseil gesichert, außerdem sind ab und zu kleine Stufen in den Felsen gehauen. Wir steigen von oben ein — und wer Angst hat, daß ihm schwindlig wird, der schaut einfach nicht hinunter. Hat eigentlich jemand Angst ?«
Keiner meldete sich.
»Na also, das dachte ich mir doch«, sagte Immerfroh zufrieden. »Wichtig ist jetzt nur eines: daß ihr ganz genau meine Anordnungen befolgt .« Er trat an den Rand des Kamins und blickte hinunter.
Georg wäre am liebsten aufgesprungen und hätte Immerfroh zurückgezogen, aber er zwang sich, sitzen zu bleiben.
»Also«, sagte Immerfroh und rieb sich die Hände, »ich steige ein, und wenn ich unten bin, folgt mir der nächste, so wie wir hier heraufgestiegen sind. Und hört auf das, was ich euch zurufe !«
Immerfroh kniete sich hin und ließ sich über den Felsrand hinabgleiten. Noch sahen sie seinen Oberkörper, dann seinen Kopf, dann lag nur mehr eine Hand auf dem flachen Stein, und schließlich war auch die verschwunden.
Stille. Irgendwo fiel ein Stein. Sie hörten ihn rollen, hörten, wie er einige Steine mitriß , dann war es wieder ruhig.
»Sollten wir nicht nachsehen, wie es Immerfroh im Kamin geht ?« fragte Max beklommen.
»Wartet einmal !« Karl stand auf, legte sich vor dem Kamineinstieg auf den Bauch und spähte hinunter. Als er sich umdrehte und zu den anderen sah, war sein Gesicht weiß. »Was ist ?« fragte Hans.
»Ich sehe ihn nicht .«
Die Buben fuhren hoch, dann ließen sie die Köpfe hängen.
»Das ist doch nicht möglich«, sagte Hans, »das gibt es doch nicht. Schau noch einmal nach !«
Karl beugte sich noch einmal zitternd über den Rand. Nach einer Weile schob er sich zurück und setzte sich auf. »Es war nur ein Felsvorsprung«, sagte er aufatmend, und die Farbe kehrte wieder in sein Gesicht zurück. »Nur ein Felsvorsprung. Er ist gleich unten .«
»Achtung !« kam da die Stimme von Immerfroh herauf, »der nächste!«
Willi stand auf, machte einen Schritt und setzte sich wieder
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