Zeltplatz Drachenloch
sehe, daß ich doch nicht immer so zu Dir war, wie es meine Pflicht gewesen wäre. Deshalb mache ich Dir hiermit die Mitteilung, daß sich bei uns einiges ändern wird, wenn Du wieder daheim sein wirst. Ich habe eingesehen, daß es so nicht mehr weitergeht. Ich habe eine liebe Frau gefunden, die auch Dir eine liebe Mutter sein will. Ich sehe ja ein, daß sie unsere liebe, tote Mutti nicht ersetzen wird können. Aber eine gute Stiefmutter ist besser als gar keine Mutter. Dann werden wir wieder Ordnung und ein schönes Heim haben.
Schreib mir doch, wie Du darüber denkst. Wenn Du sehr lieb sein willst, füge auch einige Grüße für deine künftige Mutter bei. Ich glaube, sie würde sich sehr darüber freuen. In der Hoffnung, daß Dich diese Zeilen bei voller Gesundheit erreichen, bin ich Dein Dich liebender
Vater
»Mit dir spreche ich später, Max«, sagte Gine, »dein Vater sagte mir nämlich, was in dem Brief steht .«
»Ist gut«, brummte Max.
Immerfroh, der bereits Kam und Georg begrüßt hatte, drückte nun auch Gine die Hand.
Georg marschierte mit Hans, der es sich nicht hatte nehmen lassen, den Rucksack Georgs zu tragen.
Max ging als letzter allein. Gine lief zu ihm und legte ihre Hand auf seine Schulter.
Das war Max unangenehm. Er blieb stehen, und Gine zog die Hand zurück.
»Hast du sie vielleicht gesehen ?« fragte Max.
»Du meinst...«
Max nickte.
»Ja«, sagte Gine, »sie ist eine nette Frau. Ihr Mann ist gestorben .«
»Und sie hat keine Kinder ?«
»Nein. Sie war nur ganz kurz verheiratet .«
Max räusperte sich. »Und wie sieht sie aus ?«
»Nett. Sie hat gerade aufgeräumt, als ich oben war, und dann hat sie Socken von dir gestopft .«
»Wenn Mutti Socken stopfte, dann erzählte sie mir immer etwas .« Max blieb stehen und hustete, aber es nützte nichts. Er mußte weinen. Und er schämte sich furchtbar vor Gine. Er versuchte, in den Wald hineinzulaufen, aber Gine war hinter ihm her und holte ihn ein.
»Du brauchst dich nicht zu schämen«, sagte Gine. »Weißt du, wenn ein Mann um seine Mutter weint, dann ist das wirklich nicht etwas, worüber man sich schämen muß .« Gine setzte sich auf einen Baumstumpf. »Komm, setz dich zu mir«, bat sie.
Max setzte sich. Gine legte ihren Arm um seine Schulter. »Wein dich aus«, sagte sie, »du wirst sehen, dann ist es besser. Mutsch sagt das auch .«
Das rührte Max noch mehr. Zum Unglück hatte er kein Taschentuch bei sich. Gine gab ihm ihres.
»Ich will es dir schenken«, sagte sie, »zum Andenken. Und deine Stiefmutter, ich glaube, die wird bestimmt keine böse Stiefmutter sein, so wie es in den Geschichten steht. Und deine Mutter wird es bestimmt lieber sehen, daß eine andere Frau deine Socken stopft und Hemden wäscht, die Hemden hat sie nämlich auch gewaschen, als du würdest Löcher in den Socken und schmutzige Hemden haben. Dein Vater war rasiert und sehr freundlich .«
»Ich glaube, ich werde zu ihr nie Mutti sagen können«, meinte Max.
Bevor Max auf den Weg hinaustrat, blieb er stehen und sah Gine an. »Das werde ich dir nie vergessen«, versprach er, »wirklich nie .«
»Ich will es auch niemand verraten, nicht einmal Mutsch oder Kam«, versprach Gine. »Das bleibt unser Geheimnis .«
Diese Nacht gab es wieder Alarm. Flocki , der mit Kores die Runde machte, blieb plötzlich stehen und bellte. Er war nicht um einen Schritt weiterzubringen. Kores witterte Gefahr und pfiff.
»Hast du etwas gesehen ?« fragte Immerfroh.
»Nein.«
»Was gehört ?«
»Nein.«
»Was war es dann ?« Immerfroh leuchtete den Boden ab. Da hatte er es auch schon. Eine kleine, unscheinbare, stachlige Kugel lag im Lichtkegel der Taschenlampe. Es sah aus wie ein graues Stecknadelkissen.
»Ein Igel!«
»Du hast uns aber schön erschreckt«, lachte Immerfroh, »du kleines Biest .« Und er hob ihn auf und nahm ihn mit sich.
Morgen wollte er ihn Gine zeigen.
Der große Tagesausflug war sorgfältig vorbereitet worden. Alle konnten mit, denn Gines Tante und Gine wollten den Tag über das Lager bewachen.
»Wenn wir Glück haben, können wir Gemsen sehen«, hatte Immerfroh gesagt und seinen Feldstecher in die Außentasche des Rucksackes gesteckt.
Jetzt, zu Mittag, hatten sie bereits mehr als die Hälfte des Weges hinter sich. Immerfroh lag mit seiner Horde auf einer Wiese in der Nähe einer Almhütte. Ringsherum bimmelten die Glocken der Kühe. Es war, als ob die Wiese läutete. Ihnen gegenüber stiegen die Geröllhalden und Felsen des
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