Zementfasern - Roman
wieder zu den toten Vinylscheiben auf dem Tisch hinüber, jetzt wirkten sie matt, bedeckt von dem Staub, der immer auf ihnen gelegen hatte und den man zunächst nicht bemerkte.
Unterdessen hatte der Asbest auch den Vope besiegt.
Arianna lernte während ihrer Otranter Sommer in der Region des Todes den Sinn für das Leben.
»Du bist erwachsen, jetzt musst du allein eine
parmasia
machen.« Mimi lehrte sie, einen Totenkorb zusammenzustellen, denn auch für andere, die mit dem Ternitti gearbeitet hatten, nahte der Zeitpunkt.
Arianna hatte immer an eine parallele Lebensbahn geglaubt, die sie nicht mit ihrer Mutter verband. An dem Tag, an dem Mimi sie aufgefordert hatte, einen Totenkorb zu machen, begriff sie, dass die beiden Bahnen sich vereinigt hatten.
»Ich habe Schallplatten geschenkt bekommen.«
»Mama, die sind aus Vinyl, wer weiß, was die kosten!«, rief Arianna mit gellender Stimme.
»Einen ganzen Nachmittag lang habe ich sie angestarrt, ohne zu wissen, was ich damit machen soll.« Der junge Arbeiter und sie hatten sich umarmt und geliebt, sie hatten Gedichte gelesen, an die Blumen gedacht, die aus ihrem Blut sprießen würden, und dabei waren die Vinylscheiben immer glanzloser geworden. Dann hatte sie eine Erleuchtung. Bei der nächsten
parmasia
würde sie eine der Platten in den Korb tun, damit die Toten von einer irdischen Musik begleitet würden.
Es gibt eine Abfolge von Gesten, die sinnlos erscheinen mögen und manchmal in einem rituellen Kontext gut aufgehoben sind. In diesem Moment fanden Arianna und Mimi wieder zueinander. Um den ersten Totenkorb herum, der ganz allein Arianna gehörte.
Der Vope war mit einem schweren Husten in Federicos Armen gestorben.
»Haltet euch alle fern von uns«, hatte der Sohn den Rest der Familie angefleht. Wenn man den sich verschlechternden Zustand und den Todeskampf eines geliebten Menschen von einem winzigen Schritt zum nächsten verfolgt, dehnt die Zeit sich aus, sie wird langsamer, die Einzelheiten werden größer und verändern die Dynamik der familiären Abläufe. Federico spürte, dass es besser war, allein zu sein. In den letzten Monaten hatte er gelitten und sich mit der Wohltat seiner Familie getröstet, nachts hatte er im Wechsel mit einer Krankenschwester und der Mutter gewacht, er hatte sich um die Körperhygiene seines kranken Vaters gekümmert, ihm den Bart mit Schaum rasiert. Auch das hatte er für ihn gelernt. »Denn ich will meinen Vater nicht erst waschen und ankleiden, wenn er tot ist.«
Arianna war an seiner Seite gewesen, und als Federico bat, ihn mit dem Vater allein zu lassen, hatte sie gehorcht. Manchmal wusste sie nicht, was richtiger gewesen wäre, bei ihm zu bleiben oder ihn in Ruhe zu lassen. Auch als Federico den Vater mit einer einfachen Klinge rasierte, weil der Vope es so wollte, und mit Schaum, der sich wie Zuckerwatte auf der Rasierklinge aufhäufte, war Arianna dabei gewesen. Sie hatte dem Vope eine Leinenserviette um den Hals gebunden, die sie auf Geheiß von Domenica Orlando aus einer alten Aussteuer genommen hatte. Arianna lächelte, als Federico die ausgehöhlten Wangen des Vope einseifte, der immer mühsamer atmete, wobei er die Brust hob und zur Seite sank, als wollte er sich zusammenkauern. Die Lungen brannten, doch auch in Arianna schmerzte trotz ihres Lächelns das Bild eines Menschen. Und das war ihr Vater. Obwohl sie seinen Namen nicht kannte, war sie überzeugt, dass sie in der Lage gewesen wäre, ihn auf die elysischen Gefilde zu geleiten, mit eben-so großer Hingabe wie Federico, wie eine der Frauen von Cecilia Mangini.
Arianna erinnerte sich noch sehr gut an einen Dokumentarfilm von Cecilia Mangini, der Regisseurin, die in den sechziger Jahren die Klagelieder der Trauernden von Stendalì aufgenommen hatte. Die Trauernden waren eine Gruppe junger und alter Frauen, Gesichter, von jahrtausendealten Falten gezeichnet, die einen Jungen zu seiner Grabstätte begleiteten. Auch in dem Film war es ein Tod durch Arbeit. Der wunderschöne Jüngling mit schwarzen Locken, kaum zwanzig, die Hände gefaltet, den Kopf auf einem weißen Kissen, wurde in seinem Holzsarg von Frauen umringt, die ihn beweinten. Jede riss sich Haarbüschel aus. Ein Unterfangen, das mit Sorgfalt ausgeführt werden muss: ein Büschel ergreifen und um die Faust wickeln, damit ein kleiner Zopf entsteht. So einen hatte Arianna in der Zeit ihrer gefärbten Haare gehabt. Denselben kleinen Haarknoten zu sehen und ihn dann auszureißen, hatte sie verstört,
Weitere Kostenlose Bücher