Zementfasern - Roman
Armen, rückte sich die Brille auf der Haarwelle zurecht.
»Was ist das für eine Frage?«
»Ich bin nur neugierig, es ist ein Spiel.«
»Es ist brutal, wenn es etwas gibt, an das ich mich nicht erinnern will, wühlst du es wieder auf.«
»So sind die Spielregeln.«
»Es gibt auch Ausnahmen.«
»Wir haben keine vereinbart.«
»Können wir nicht welche vereinbaren?«
»Nein.« Paolos Blick wurde plötzlich inquisitorisch. Es gab darin keine Zuneigung, der Blick hatte das Licht eines schwarzen Diamanten, er offenbarte die dunklen Seiten eines Jungen, der immer sanftmütig, reserviert, vom Leben fast erschreckt erschienen war. In seinem Ausdruck erkannte Mimi, woher diese Neugierde kam, und vor allem, wen Paolo, der Schweizer, meinte. Doch durfte sie ihr Geheimnis mit Ippazio beim ersten Windhauch preisgeben?
»Bist du sicher, dass du es wissen willst?«
»Ja.« Und während er antwortete, wand Paolo sich noch mehr, fast traten ihm die Augen aus den Höhlen, seine zitternden Lippen verzogen sich.
»Meiner Meinung nach hältst du es nicht aus.«
»Ich halte es aus.«
»Also erzähl ich’s dir?«
»Ja, bitte.«
»Ich war vierzehn und mit einem dreizehnjährigen Jungen zusammen. Ein Jahr jünger als ich. Eine Schande, mit der ich noch immer fertig werden muss. Wenn ich ihn heute sehe, graumeliertes Haar und zwei Kinder, die zwischen seinen Beinen herumtoben, denke ich an ihn, als er klein war, schwächlich, dem Anschein nach unterernährt, ein Junge, den kein Mädchen wahrnahm, außer mir.«
»Und was soll das heißen?«
»Jeder ein Geheimnis, haben wir gesagt.«
»Aber du hast meine Frage nicht beantwortet. Die Geheimnisse, die wir als Kinder hatten, gelten nicht.«
»Dies ist kein Fragespiel, sondern das Wahrheitsspiel.«
»Du schummelst, Mimi.«
»Du hast mich nach dem Freund gefragt, für den ich mich am meisten schäme.«
»Aber mit vierzehn hat man noch keinen Freund, in den man verliebt ist!«
Mimi begann, sich über Paolo zu amüsieren, sie antwortete ihm nicht, weil eine warme Welle sie überflutete, als sie sich einen Augenblick lang die längst vergangene, vor tausenden Sommern gemachte Erfahrung vergegenwärtigte. Sie, ein junges Mädchen, bezaubert von seiner Drolligkeit, und der Unterernährte immerzu auf einem Fahrrad, die schwarzen Locken im Wind.
Der zweite Ball wurde ein leichtes Tor für Mimi.
»Du bist dran, Signor gebrochenes Herz.«
»Jetzt muss ich auch etwas aus meiner Kindheit fischen, Mimi, um mit deinem Geheimnis mithalten zu können.«
»Ich erinnere mich nicht, dass du eine Jugend als Herzensbrecher gehabt hättest.« Bei diesem Satz fing Paolo an zu lachen, und Mimi, die einen Moment lang befürchtet hatte, sie sei zu heftig gewesen, stimmte sofort ein.
»Also, wer war deine erste kleine Liebe? Denn das haben wir hier im Salento nie erfahren. Paolo hat eine Freundin? Das fragen sich die Leute … noch immer.«
»Giulia, die Tochter der Gevatterin Antonella.«
»Die Gevatterin Antonella hat eine Tochter?«
»Giulia ist so alt wie ich, aber sie ist bei ihrem Vater in der Schweiz geblieben, wusstest du das nicht? In Zürich hatte die Gevatterin eine Liebesgeschichte mit einem Deutschen, Giulia ist eine Salentina mit den Waden einer Teutonin, darum ist sie ja auch Fußballerin. Mit achtzehn haben wir uns verlobt, vor zwei Sommern ist es zu Ende gegangen.«
Mimi war verwirrt, von einer sonderbaren Erregung gepackt, einer Erschütterung, und sie kam aus einem Spalt, den sie verschlossen geglaubt hatte. Mehr wollte sie nicht hören von der Schweiz, von Vätern und Müttern, die von ihren Kindern getrennt worden waren.
»Wirf den nächsten Ball, Jungchen.«
Die Kugel sauste schräg über den Tisch und landete zwischen Mimis Verteidigern, ihr Stoß und der abgestumpfte Angelpunkt gaben dem Ball noch mehr Drall, ein wunderschönes Tor.
»So, Jungchen, jetzt erzählst du mir dein Geheimnis.«
»Ich mochte Arianna. Ich hätte gerne Kopfsprünge machen können wie Federico, aber mir fehlte der Mut …«, für Paolo war es ein Kummer, in seiner Brust regte sich noch jetzt Bedauern. Mimi stieg ein schwarzer Schatten ins Gesicht, über ihre Stirn fuhr ein Blitz. Jetzt auf keinen Fall aufhören.
»Lass uns weiterspielen.«
Paolo warf den Ball, zwei Züge mit der Stange, mitten zwischen den Stürmern fand er ihn wieder. Ein Schuss, Mimi wehrte ab. Wäre es ein Tor gewesen, hätte die letzte Wahrheit ans Licht kommen müssen: Arianna Orlando und der auf Blauasbest
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