Zementfasern - Roman
spezialisierte Arbeiter im alten industriellen Zürich, Ippazio, genannt Pati. Das wussten beide, Mimi und Paolo. Sie wussten es so genau, dass es vielleicht sogar nicht mehr nötig war, dieses sinnlose Spiel fortzusetzen, einen Vorwand zu suchen, um sich Geheimnisse anzuvertrauen. Unterdessen rollte der Ball auf dem Feld von einer Seite zur anderen.
Tor.
Die Kugel war auf Mimis Torwart zugeschossen, sie hatte versucht, ihn zur Seite zu manövrieren, um dann von der Bande aus zu spielen, doch der Ball klemmte zwischen dem Fuß der Spielfigur und dem Boden fest. Das Manöver, mit dem sie ihn loszubekommen versuchte, war so heftig, dass es das ohnehin schon vom Alter und der Feuchtigkeit unebene Spielfeld verbog, der Ball sauste davon. Ein tadelloser, scharfer Schuss, unmöglich, ihm Einhalt zu gebieten. Von einem Tor zum anderen. Treffer. Den hatte Mimi mit ihrem Torwart geschossen.
Ihr Geheimnis war gerettet.
Eines Tages schenkte der junge Arbeiter Mimi ein paar Platten.
Es waren alte LPs, für die der Mann viel bezahlt hatte, und ebenso viel Mühe hatte es ihn gekostet, sie zu finden. Er war nur darum nach Lecce gefahren. Sie glaubte, er klettere auf eine Baustelle an der Piazza vor der Präfektur. Stattdessen gab es dort einen Laden mit gebrauchten Platten. Sie war gerührt, weil sie spürte, dass er etwas getan hatte, was ganz und gar nicht zu ihm passte. Rührung, mehr nicht. Aber das sollte sie erst kurze Zeit später klarer erkennen.
Den Grund für das Geschenk fischte sie aus ihrem Gedächtnis: Sie selbst hatte ihm von ihren Sonntagnachmittagen an der Limmat erzählt, der kleinen Musikkapelle, der Jukebox mit den Hits der italienischen Popmusik.
Umschlungen wie junge Leute saßen sie auf dem Sofa, Mimi nistete sich in den langen Armen des Jungen ein und beide betrachteten die auf dem Tisch verstreuten Vinylscheiben, fremdartige, faszinierende Gegenstände aus einer fernen Zeit. Hast du je eine LP auf den Teller eines Plattenspielers gelegt? Hast du je das Geräusch der Nadel in den Rillen einer 45er-Single gehört, hast du je das Knistern vernommen, das den Klängen wie eine Störung vorausgeht?
Mindestens eine Stunde verstrich, in der sie vor dem Geschenk saßen. Hände wurden gedrückt, Knie gekreuzt, Arme streckten sich über dem Rücken aus, auf dem Nacken öffneten sich Finger, streichelten die Haut … langsam gelangten sie an die Stellen des Körpers, wo man das Pulsieren des Blutes spürt, die Region geheimer Details, das Knäuel der Wahrheit, das Domenica Orlando nach und nach entwirren sollte, jedoch eher mit der Sparsamkeit eines schleichenden Gifts als mit ungestümer Lust.
Sie betrachteten die Vinylplatten und wussten nicht, was sie damit anfangen sollten, der junge Arbeiter hatte noch nie im Leben welche gesehen, bevor er sie kaufte, um sie seiner Liebsten zum Geschenk zu machen. Mimi hatte noch nie eine auf den Plattenteller gelegt.
»Man braucht dafür einen Plattenspieler. Ich habe keinen.« Und nach ein paar Sekunden Stille sagte sie: »Nimm ein Buch von dem Stapel da.«
Der junge Mann gehorchte. Er ging zu einem Regal, wo die Bücher in der Horizontalen lagen.
Darunter war eine Anthologie mit Liebesgedichten. Ein aufs Geratewohl gekauftes Buch, Mimi schlug es auf und fand einen wunderbaren Vers: »Ich werde mir die Pulsadern aufschneiden / und Blumen werden aus meinem Blut sprießen …«
»Liest du es mir vor?«
Sie beugte den Kopf über das Buch und las das Gedicht; es war ein trauriges, aber kraftvolles Gedicht von einem Mann, der sich die Adern aufschneidet, um Blumen aus seinem Blut sprießen zu lassen und zu verschenken, der sich die Augen ausreißt, um die Farbe seiner Pupillen zu verschenken.
»Ein Mann, der liebte.«
Das Gedicht richtete sich an eine Frau, es war, als empfände der Mann ein unbezwingliches Bedürfnis, seiner Geliebten etwas absolut Einzigartiges zu schenken.
»Die eigenen Farben hinzugeben … was für ein schönes Bild. Würdest du nur aus Liebe, nur für mich, für den Rest deiner Tage in einer Welt leben wollen, die du in Schwarzweiß siehst wie einen alten Film?«, fragte Mimi mit einem kecken, listigen Lächeln.
»Für immer in Schwarzweiß?«
»Der Dichter verzichtet für seine Geliebte auf die Farben der Welt. Würdest du für deine Mimi auf die Farben verzichten?«
»Ja, und du verzichtest auf …«
»Aus Liebe verzichte ich auf ein Stückchen von mir.« Doch kaum hatte sie es gesagt, wusste sie, dass sie gelogen hatte.
Sie blickte
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