Zerbrechlich - Zerbrechlich - Handle with Care
etwas tust, musst du erst lernen, was du da tust.
Ich zuckte mit den Schultern. Ich wette, Betty Crooker würde eine wissenschaftliche Formel nicht mal erkennen, wenn sie ihr aus dem Backofen ins Gesicht fliegt.
Charlotte begann, den Teig zu rühren. Im Prinzip weiß sie das: Eine Zutat in der Schüssel ist ein Anfang; aber zwei Zutaten in der Schüssel … das ist eine ganze Geschichte.
Was Charlotte nicht erwähnt hat, ist Folgendes: Selbst der sorgfältigste Bäcker macht mitunter einen Fehler, sodass das Verhältnis von Säure zu Hydrogenkarbonat nicht stimmt oder die Zutaten nicht richtig durchmischt sind und hinterher noch Natron vorhanden ist.
Das hinterlässt dann einen bitteren Geschmack im Mund.
Am Morgen des Prozesses blieb ich ungewöhnlich lange in der Dusche und ließ mir wie zur Strafe einen harten Wasserstrahl auf den Rücken prasseln. Nun war er gekommen: der Augenblick, da ich Charlotte vor Gericht gegenübertreten würde.
Ich hatte ganz vergessen, wie ihre Stimme klang.
Der Verlust einer besten Freundin ist auch nicht viel anders als der Verlust eines Geliebten: Es dreht sich alles um Intimität. Eben hat man noch jemanden, den man an seinen größten Triumphen und schlimmsten Fehlern teilhaben lassen kann, und plötzlich muss man alles für sich behalten. Gerade noch will man sie rasch anrufen, um ihr irgendeine Kleinigkeit zu erzählen oder seinen Frust über einen miesen Tag abzulassen, und dann fällt einem ein, dass man dieses Recht ja gar nicht mehr hat. Irgendwann weiß man dann selbst ihre Telefonnummer nicht mehr.
Nachdem ich den ersten Schock nach Zustellung der Anklageschrift überwunden hatte, war die Wut in mir hochgekocht. Für wen hielt Charlotte sich eigentlich, dass sie mein Leben ruinierte, nur um sich selbst einen Vorteil zu verschaffen? Die Wut brannte jedoch zu hell, um lange zu halten, und als sie wieder erloschen war, war ich benommen und nachdenklich. Würde Charlotte bekommen, was sie wollte? Und was wollte sie eigentlich? Rache? Geld? Frieden?
Manchmal erwachte ich mit einem Wort, das mir noch schwer wie ein Stein auf der Zunge lag als Überbleibsel eines wiederkehrenden Albtraums, in dem Charlotte und ich uns von Angesicht zu Angesicht begegneten. Es gab tausend Dinge, die ich ihr sagen wollte, doch nicht eines davon schaffte es über meine Lippen. Wenn ich sie dann anschaute, um zu sehen, warum auch sie schwieg, sah ich, dass ihr Mund zugenäht war.
Ich war seitdem nicht wieder zur Arbeit gegangen. Als ich es einmal versuchte, kam ich schon an der Tür so heftig ins Zittern, dass ich gar nicht erst reinging. Es gab andere Ärzte, die ebenfalls wegen eines Behandlungsfehlers verklagt worden und trotzdem ihrem Beruf weiter nachgegangen waren, doch hier ging es nicht nur um die Frage, ob ich Osteogenesis imperfecta in utero hätte diagnostizieren können oder nicht. Es ging nicht um die Knochenbrüche, die ich nicht früh genug erkannt hatte; es ging um die Wünsche einer Freundin, die ich geglaubt hatte zu kennen. Wenn ich noch nicht einmal in der Lage gewesen war, Charlotte zu durchschauen, wie sollte ich die Bedürfnisse von Patienten verstehen, die mir vollkommen fremd waren?
Natürlich stellte mein Daheimbleiben eine große finanzielle Belastung für uns dar. Ich hatte Rob versprochen, dass ich Ende des Monats wieder arbeiten würde, egal, ob der Prozess dann vorbei war oder nicht. Ich hatte allerdings nicht genauer angegeben, was ich arbeiten würde. Ich konnte mich nicht überwinden, auch nur eine ganz gewöhnliche Schwangerschaft zu betreuen. Aber was war an einer Schwangerschaft schon gewöhnlich?
Im Rahmen der Vorbereitungen mit Guy Booker war ich meine Notizen und Erinnerungen tausend Mal durchgegangen. Fast glaubte ich ihm, wenn er sagte, dass man es keinem Arzt zum Vorwurf machen könne, wenn er OI anhand eines Ultraschallbildes aus der achtzehnten Woche nicht diagnostiziert, und selbst wenn ich einen Verdacht gehabt hätte , wäre das übliche Vorgehen gewesen, noch mehrere Wochen zu warten, um zu sehen, ob es sich um Typ II oder III handelt. Ich sei meiner ärztlichen Verantwortung voll und ganz gerecht geworden, erklärte er.
Nur meiner Verantwortung als Freundin war ich nicht gerecht geworden. Ich hätte genauer hinsehen sollen. Ich hätte Charlottes Akte genauso gründlich durchgehen sollen, wie ich mir meine eigene angeschaut hätte, wäre ich der Patient gewesen. Selbst wenn man mir vor Gericht recht geben würde, als Freundin hatte ich
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