Zerbrechlich - Zerbrechlich - Handle with Care
sie niemals wird laufen können. Im Wesentlichen«, sagte der Genetiker, »haben wir es hier mit einem Leben voller Schmerzen zu tun – wie kurz es auch sein mag.«
Sean neben mir spannte sich wie eine Kobra und war bereit, seine Wut und Trauer an dem Mann auszulassen, der mit uns redete, als ginge es nicht um dich, sondern um ein defektes Auto.
Dr. Bowles schaute auf seine Uhr. »Noch Fragen?«
»Ja«, sagte ich. »Warum hat uns das bisher niemand gesagt?«
Ich dachte an all die Bluttests und die Ultraschalluntersuchung, die ich zuerst hatte machen lassen. Wenn mein Baby wirklich so krank war, dann musste doch schon früher etwas zu sehen gewesen sein.
»Nun«, antwortete der Genetiker, »weder Sie noch Ihr Mann haben eine genetische Veranlagung für OI . Deshalb sind im Rahmen der Routineuntersuchungen auch keine entsprechenden Tests durchgeführt worden. Tatsächlich ist es sogar gut, dass es sich in Ihrem Fall um eine spontane Mutation handelt.«
Mein Baby ist ein Mutant , dachte ich. Sechs Augen. Antennen. Bring mich zu deinem Anführer.
»Sollten Sie noch ein Kind bekommen, besteht kein Grund zu der Annahme, dass das noch einmal passiert«, sagte er.
Sean sprang auf, doch ich legte ihm die Hand auf den Arm.
»Können Sie uns sagen, ob das Baby bei der Geburt …« Ich konnte es nicht aussprechen. Ich senkte den Blick, damit er verstand, was ich meinte. »… oder ob es länger lebt?«
»Das lässt sich zurzeit schwer abschätzen«, antwortete Dr. Bowles. »Wir werden weitere Ultraschalluntersuchungen machen, aber manchmal kommt ein Baby, dessen Prognose düster war, lebend zur Welt und umgekehrt.« Er zögerte. »Es gibt noch eine andere Option … Es gibt mehrere Kliniken in unserem Land, in denen Schwangerschaften aus medizinischen Gründen auch noch abgebrochen werden, wenn sie so weit fortgeschritten sind wie Ihre.«
Ich sah, wie Sean mit dem Wort rang. »Wir wollen keine … Abtreibung.«
Der Genetiker nickte.
»Wie geht das vonstatten?«, fragte ich.
Sean starrte mich entsetzt an. »Charlotte, weißt du, wie das abläuft? Ich habe Bilder gesehen …«
»Es gibt viele unterschiedliche Methoden«, erklärte Dr. Bowles und schaute mich direkt an. »Beispielsweise kann man einfach das Herz des Fötus anhalten und …«
»Des Fötus ?«, explodierte Sean. »Das ist kein Fötus. Das ist meine Tochter, über die wir hier reden.«
»Wenn ein Schwangerschaftsabbruch für Sie keine Option ist …«
»Option? Verdammt! Das hätte gar nicht erst auf den Tisch kommen dürfen«, sagte Sean. Er griff nach mir und zog mich in die Höhe. »Glauben Sie, Stephen Hawkings Mutter hat sich auch diesen ganzen Mist anhören müssen?«
Mein Herz hämmerte wie verrückt, und ich bekam keine Luft mehr. Ich wusste nicht, wohin Sean mich führte, und es war mir auch egal. Ich wusste nur, dass ich dem Arzt nicht eine Sekunde länger zuhören wollte, der über dein Leben redete, als läse er aus einem Henkerslehrbuch vor: lauter entsetzliche Einzelheiten, die man normalerweise überging.
Sean zog mich den Gang hinunter und in einen Aufzug, dessen Tür sich gerade schloss. »Tut mir leid«, sagte er und lehnte sich an die Wand. »Ich … ich konnte einfach nicht mehr.«
Wir waren nicht allein im Aufzug. Neben mir stand eine Frau, gut zehn Jahre älter als ich, mit einem Kind in einem dieser hochmodernen Rollstühle. Das Kind war ein Teenager, ein dünner Junge mit verdrehten Gliedmaßen. Sein Kopf wurde von einem Gestell an der Stuhllehne gestützt. Seine Arme standen ab, die Brille saß schief auf der Nase, sein Mund stand offen, und die Zunge füllte den gesamten Mundraum. »Aaah!«, sang der Junge. »Aaah!«
Seine Mutter legte ihm die Hand auf die Wange. »Ja, das stimmt.«
Ich fragte mich, ob sie wirklich verstand, was er sagen wollte. Gab es eine Sprache des Verlusts? Sprach jemand, der litt, einen eigenen Dialekt?
Ich starrte auf die Finger der Frau, die ihrem Sohn übers Haar streichelte. Kannte der Junge die Berührung seiner Mutter? Lächelte er sie an? Sagte er je ihren Namen?
Würdest du je meinen Namen sagen?
Sean griff nach meiner Hand und drückte sie. »Wir schaffen das«, flüsterte er. »Zusammen schaffen wir das.«
Ich schwieg, bis der Aufzug im dritten Stock anhielt und die Frau ihren Sohn in den Gang schob. Die Tür schloss sich wieder, und Sean und ich waren allein. »Okay«, sagte ich.
Marin riss mich in die Gegenwart zurück. »Erzählen Sie uns von Willows Geburt.«
»Sie kam
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