Zerfetzte Flaggen
Hemd an einem Spieß als Flagge hochhaltend. Wie er gehört hatte, was los war, und rechtzeitig auftauchte, um Bolitho zu begleiten, blieb ein Rätsel.
Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis sie den Damm erreichten.
Die ganze Zeit über stand die kleine Gruppe am anderen Ende unbeweglich; lediglich die weiße Flagge über dem Kopf eines So ldaten zeigte durch ihr Flattern die unparteiische Gegenwart des Windes an.
Bolitho fühlte, wie seine Füße in Sand und Schlamm einsanken, je mehr sie sich der wartenden Gruppe näherten. Hier und da zeigten sich Spuren des Kampfes: ein zerbrochener Säbel, ein zerscho ssener Hut, ein Beutel mit Gewehrkugeln. Im tieferen Wasser sah er ein Paar Beine sanft schaukeln, als ob der dazugehörige Körper jeden Augenblick wieder auftauchen würde.
D’Esterre sagte: »Näher können wir nicht heran.«
Die beiden Gruppen standen einander jetzt gegenüber, und obgleich der Mann neben der Flagge keinen Rock anhatte, wußte Bolitho doch gleich, daß es der Offizier von gestern war. Wie um dies zu beweisen, saß der schwarze Hund neben ihm im nassen Sand und ließ die rote Zunge heraushängen.
Ein wenig dahinter stand Fähnrich Huyghue, klein und zerbrechlich gegen die großen, sonnengebräunten Soldaten.
Der Offizier hielt die hohlen Hände vor den Mund und rief mit tiefer, volltönender Stimme, die mühelos die Entfernung überbrückte: »Ich bin Oberst Brown von der Charlestown-Miliz. Mit wem habe ich die Ehre?«
D’Esterre rief: »Hauptmann d’Esterre, Marineinfanterie Seiner Britannischen Majestät.«
Brown nickte langsam. »Ich bin bereit, mit Ihnen zu verhandeln.
Ich gestatte Ihren Leuten, das Fort unversehrt zu verlassen, wenn Sie die Waffen niederlegen und keinen Versuch machen, die Vorräte zu zerstören.« Er machte eine Pause und fuhr dann fort: »Andernfalls wird meine Artillerie das Feuer eröffnen und eine Evakuierung verhindern, selbst auf die Gefahr hin, daß wir dabei das Magazin in die Luft sprengen.«
D’Esterre rief: »Verstanden!« Bolitho flüsterte er zu: »Er will Zeit gewinnen. Wenn es ihm gelingt, Geschütze auf den Steilhang zu schaffen, wird er sicherlich ein paar Weitschüsse auf die Schiffe abfeuern können, wenn sie geankert haben. Es bedarf nur eines glücklichen Treffers an der richtigen Stelle.« Laut rief er wieder: »Und was hat der Fähnrich damit zu tun?«
Brown zuckte mit den Schultern. »Ich biete ihn zum Austausch gegen den französischen Offizier an.«
Bolitho sagte leise: »Verstehe. Er wird das Feuer auf jeden Fall eröffnen, möchte aber vorher den Franzosen in Sicherheit wissen, damit er bei der Beschießung weder getroffen noch von uns getötet wird.«
»Ja«, flüsterte d’Esterre, und laut sagte er: »Ich kann in diesen Austausch nicht einwilligen!«
Bolitho sah, wie der Fähnrich einen Schritt nach vorn machte, die Hände wie flehend halb erhoben.
Brown rief: »Das werden Sie noch bedauern!«
Bolitho hätte sich gern umgedreht, um zu sehen, wie weit die Schiffe jetzt waren; aber jedes Zeichen von Unsicherheit konnte sich fatal auswirken, vielleicht sofort einen neuen Frontalangriff bringen. Wenn der Feind gewußt hätte, daß die Kanonen bereits vernagelt waren, dann wäre er längst auf der Insel gewesen. Bolitho fühlte sich plötzlich sehr verwundbar. Aber wieviel schwerer mußte es für Huyghue sein. Mit sechzehn Jahren in einem fremden Land unter Feinden zurückgelassen zu werden, wo sein Verschwinden oder sein Tod kaum Staub aufwirbeln würde.
D’Esterre rief hinüber: »Ich würde lieber Ihren stellvertretenden Kommandeur austauschen.«
»Nein.« Oberst Brown streichelte beim Sprechen den Kopf des Hundes, wie um sich zu beruhigen.
Offensichtlich hat er seine Befehle – wie wir alle, dachte Bolitho.
Die Erwähnung des stellvertretenden Kommandeurs hatte lediglich beweisen sollen, daß Paget seine Gefangenen noch in Gewahrsam hatte und daß sie am Leben waren. Diese Erkenntnis konnte Huyghue vielleicht das Leben retten.
Ein Geschütz bellte plötzlich auf, seltsam hohl und wie erstickt.
Die Miliz hat also ihre Kanonen bereits in Stellung gebracht, dachte Bolitho. Die Enttäuschung gab ihm einen Stich ins Herz, bis er ferne Jubelrufe hörte.
Stockdale keuchte: »Eins der Schiffe hat geankert, Sir!«
D’Esterre blickte Bolitho an und sagte: »Wir müssen gehen, ich will des Jungen Elend nicht noch verlängern.«
Bolitho rief hinüber: »Hören Sie, Mr. Huyghue, alles wird gutgehen.
Sie werden bestimmt
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