Zerfleischt - Der ultimative Thriller
täglichen Bericht der Todesanzeigen vorlas. In seiner monotonen Art leierte er: »Nun, das war ›April in Paris‹ von Count Basie und seinem Orchester. Und davor hatten wir ›See Saw‹ von den Moonglows. Mensch, ich erinnere mich daran, als wäre es gestern gewesen. Ja, es ist ein weiterer herrlicher Tag im Stadtzentrum von Greenlawn. Die Sonne scheint und die Vögel zwitschern und die ganze Welt ist in Ordnung. Bleiben Sie am Apparat, wir haben noch mehr sanfte Klänge für einen sanften Abend … Bobby Darin und die unsterbliche Patsy Cline singen ›Crazy‹.
Das müssen Sie lieben! Craaazeeee. Es passt wirklich, oder? Ich weiß nicht einmal, ob im Moment irgendjemand zuhört. Falls es irgendwer hört … es hat jetzt seit sechs Stunden keine neuen Nachrichten aus Kontinentaleuropa gegeben. Einiges aus Australien. Im mittleren Osten brennt Teheran. CNN berichtet, dass London vollkommen verdunkelt ist. Satellitenbilder bestätigen, dass das einzige Licht in der Stadt London von brennenden Gebäuden kommt. Gott stehe uns bei! Und hier zu Hause … hier zu Hause ist New York untergegangen. Eine Feuersbrunst fegt durch L. A. … Chicago ist jetzt Kriegsgebiet. Sonst weiß ich nichts … Das Internet ist abgestürzt. Habe vor einer Stunde den Zugang zur AP verloren. Ich beende jetzt das Programm. Es gibt nichts mehr zu sagen. Cozy 102 wird morgen nicht auf Sendung gehen. Bis dahin wird nämlich keiner mehr übrig sein, der weiß, was ein Radio ist. Und in Wirklichkeit wird es kein Morgen geben, oder? Nur Dunkelheit. Lagerfeuer und Steinmesser, und nächste Woche um die Zeit werden Tiere in den Straßen jagen … die meisten davon von der zweibeinigen Sorte. Jetzt kommt die Zeit des Ur-Zerfalls …
Seht, Dunkelheit wird die Erde erfassen … und die Nacht wird die Nationen der Menschheit überfallen …
Gott stehe uns bei …«
Louis streckte seine Hand aus und schaltete das Radio ab.
Vielleicht hatte ihn die tote Grenzenlosigkeit von dem, was gerade mit der Welt geschah, bis zu diesem Moment nicht getroffen. Er hörte, wie Macy neben ihm stöhnte, aber sie befand sich Lichtjahre entfernt. Die Realisierung von alldem fühlte sich wie ein Sturm aus Staub und Geröll und herumwirbelnder Scheiße in seinem Kopf an. Weder kalter noch heißer Schweiß brach auf seinem Gesicht aus und seine Zähne bissen so fest aufeinander, dass die Backenzähne schmerzten. Alles kippte von einer auf die andere Seite und er wusste, dass er im Begriff war ohnmächtig zu werden. Eine stachelige Hitze kletterte von seinem Bauch zu seiner Brust hoch.
Dieser Junge und diese Bullen und der Postbote und Macys Mutter, die im Keller baumelte, und Dick Starling waren nur die Vorspeise gewesen. Nur der Anfang.
Louis war dabei ohnmächtig zu werden. Er lenkte zur Seite und trat auf die Bremse und knallte gegen den Bordstein. Dann hörte die Welt langsam auf sich zu drehen und er saß mit Macy bewegungslos hinter dem Steuer.
Sie schaute ihn an und Tränen glänzten in den Augen.
»Ich bin okay«, sagte er. »Ich bin okay.«
Aber er war es nicht. Eine Person mit einem Tumor, der ein Loch in ihren Bauch frisst, konnte auch sagen, sie sei okay, obwohl es nicht stimmte. Etwas hatte sich in dieser Welt niedergelassen und man brauchte keine Augen, um es zu sehen – man fühlte es, was auch immer es war. Es hatte sich in jedem Holzstück und Mauerstein niedergelassen, in jedem Dachziegel, in jedem Blatt von jedem Baum. Es hatte zerstört und verschmutzt. Und was es mit den fleischigen und blutigen Gestalten dieser Stadt anstellte, lag jenseits aller abscheulichen Vorstellungen.
Louis saß ruhig da und hörte den alten Mr. Morbid im Radio immer und immer wieder sagen: Und in Wirklichkeit wird es kein Morgen geben, oder? Nur Dunkelheit. Lagerfeuer und Steinmesser, und nächste Woche um die Zeit werden Tiere in den Straßen jagen … die meisten davon von der zweibeinigen Sorte. Jetzt kommt die Zeit des Ur-Zerfalls … Seht, Dunkelheit wird die Erde erfassen … und die Nacht wird die Nationen der Menschheit überfallen …
Oh Gott im Himmel, was ging hier vor? Und was würde heute Nacht vor sich gehen, wenn die Schatten so dicht wie die Sünde im Verstand eines bösen Mannes waren, wenn erst einmal der Mond hoch über den Dächern stand?
Als er daran dachte, sah er nur Michelle vor sich. Michelle mit ihrem kastanienfarbenen Haar, das auf ihre Schultern fiel, und ihre großen, dunklen Augen, die ihn scheinbar nicht einfach nur anschauten,
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